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Walter Krämer Späte Anerkennung eines "unerwünschten Opfers"
Erinnern ist ein mühsames Unterfangen. Es setzt die Bereitschaft von Menschen voraus, sich aktiv mit einem Thema zu beschäftigen, das einen bestimmten Stellenwert in unserer Gesellschaft besitzt. Die jüngere deutsche Geschichte bringt es mit sich, dass wir uns mit den Opfern im Land der Täter beschäftigen. Dieses Spannungsverhältnis wird noch dadurch verschärft, dass oftmals zwischen Opfergruppen differenziert wird. Lange Zeit gab es gar die Unterscheidung zwischen "akzeptierten" und "unerwünschten" Opfern.
Walter Krämer als Marinesoldat.
Der Siegener Kommunist Walter Krämer (1892 - 1941) gehörte dabei eindeutig zu den "unerwünschten Opfern", die lieber vergessen und verschwiegen wurden.
1910 hatte sich Krämer freiwillig auf vier Jahre zur Kriegsmarine gemeldet. Der Erste Weltkrieg verhinderte seine Entlassung, 1918 beteiligte er sich bei den Matrosenaufständen in Kiel. Noch im selben Jahr gehörte er dem Siegener Arbeiter- und Soldatenrat an. Nach kurzer Mitgliedschaft in SPD und USPD war er 1921 mit seiner späteren Frau Liesel Lehmann bei den Mitbegründern der hiesigen KPD.
Es folgten Stationen als Parteisekretär in Krefeld, Wuppertal, Kassel und Hannover. Zuletzt war Walter Krämer Abgeordneter im Preußischen Landtag. In Hannover wurde er anlässlich des Reichstagsbrandes 1933 verhaftet, zu 3½ Jahren Haftstrafe wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" vom Volksgerichtshof abgeurteilt und in den Gefängnissen in Hannover und Hildesheim inhaftiert.
Bei seiner Freilassung im Dezember 1936 weigerte sich Krämer, als Spitzel für die Gestapo zu arbeiten, wurde in Gestapo-Haft genommen und schließlich in die Konzentrationslager Lichtenburg und Buchenwald transportiert. In Buchenwald war er als Pfleger im Häftlingskrankenbau tätig und konnte zahlreichen Mithäftlingen durch sein solidarisches Verhalten helfen und deren Leben retten.
Am 3. November 1941 wurde er zusammen mit Karl Peix in das Außenkommando Goslar gebracht, das sich in der Gemarkung Hahndorf bei der "Nachrichtenersatz- und Ausbildungsabteilung 3 der Waffen-SS" befand.
Am 6. November 1941 wurden die beiden von der SS erschossen:
Karl Peix im Fliegerhorst Goslar, Walter Krämer im Steinbruch in Hahndorf.
Schon 1986 bei der Herausgabe der Krämer-Biografie "Walter Krämer - Von Siegen nach Buchenwald" durch Klaus Dietermann und Karl Prümm war die Resonanz vor Ort eher verhalten. Man konnte oder wollte sich nicht so recht auf den kommunistischen Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus einstellen. Kommunistischer Widerstand gegen das Nazi-Regime war damals vor der Wiedervereinigung "DDR-Sache". Daran hat sich nicht viel geändert. Nur gibt es keine DDR mehr. Versuche einer im Stadtbild verankerten Erinnerung durch die Benennung einer Straße oder eines Platzes nach Krämer scheiterten.
Seit 1992 besuchen Jugendliche aus der Region Siegen Prag, um dort den neuen jüdischen Friedhof in einer Woche während der Sommerferien zu säubern. Veranstalter dieses Arbeitseinsatzes ist die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Siegerland, in deren Verlag das Krämer-Buch schon 1986 erstmals erschienen ist.
Artur Radvansky berichtet von seinem Lebensretter Walter Krämer (mpg-Datei, 3,58 mb).
Betreut wird die Jugendgruppe seither von dem heute 77jährigen Artur Radvansky.
Er ist in Prag für diesen Friedhof verantwortlich und arbeitet dort ehrenamtlich für die Berliner Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste. Dabei erzählt Radvansky den jungen Menschen seine Geschichte und die seiner Familie. Von der Gefangenschaft in verschiedenen Konzentrationslagern, von Buchenwald und Auschwitz, von den Menschen in den Lagern, dem Wachpersonal oder den Gefangenen. Artur Radvansky berichtete immer wieder von seinem Freund Walter, der ihm zweimal in Buchenwald das Leben rettete.
Radvanksy stand als Jude durch die SS-Ärzte keinerlei medizinische Betreuung zu, wie auch den sowjetischen Kriegsgefangenen, die es zeitweise im KZ Buchenwald gab. Walter Krämer aber war gelernter Schlosser und hatte sich durch seine Arbeit als Pfleger im Krankenbau von Buchenwald medizinische Kenntnisse angeeignet. Aus Fachbüchern der SS-Ärzte und unter Anleitung inhaftierter jüdischer Ärzte war es ihm gelungen, sein Wissen und die Fähigkeiten für Operationen zu erwerben.
Radvansky erzählte:
"Walter hat in der Nacht die Kranken und Verwundeten behandelt, so gut er nur konnte. Zu dieser Zeit hatte ich erfrorene Zehen. Als er sah, dass sie operiert werden mussten, hat er mich geheim ins große Lager zum Häftlingskrankenhaus als Leiche überführen lassen, in einer Kammer operiert und mich einige Tage versteckt. Auf diese Weise hat er mir das erste Mal das Leben gerettet. Dabei hat er sein eigenes Leben riskiert. Ähnlich wie bei mir hat er auch vielen anderen geholfen.
Später hat er mir zum zweiten Mal das Leben gerettet, nachdem ich bei einer Exekution 25 Schläge mit dem Ochsenziemer bekommen hatte. Die Wunden infizierten sich, waren voller Eiter, und ich hatte hohes Fieber bekommen wegen beginnender Blutvergiftung. Wieder musste ich operiert werden. In letzter Minute hat Walter Krämer die Operation durchgeführt. Eine Narbe ist ein ewiges Andenken an ihn."
Artur Radvansky am Grab von Walter Krämer, 1996.
Im Frühjahr 1996 besucht Artur Radvansky erstmals das Grab seines Lebensretters und Freundes aus Siegen. Er weinte. Nie hätte er gedacht, einmal am Grab des von den Nazis ermordeten Freundes zu stehen.
Wiederum war die Vergangenheit zurückgekehrt. Die Diskussion um die Person Walter Krämer flammte durch den Besuch des Artur Radvansky erneut auf. Radvansky sprach in verschiedenen Schulen und in Abendvorträgen über seine KZ-Haft und seinen Freund Walter aus Siegen.
Der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 1999 war sodann der Tag der Enthüllung einer Gedenktafel für Walter Krämer. Die Stadt Siegen trat erstmals als (Mit-) Veranstalter auf. Bürgermeister Karl-Wilhelm Kirchhöfer begrüßte die versammelten Menschen. Auch Artur Radvansky aus Prag war dabei und sprach mit Tränen in den Augen von seinem Freund.
Im Mai 2000 verlieh der Staat Israel Walter Krämer den Titel "Gerechter der Völker". Dies ist die höchste Auszeichnung, die Israel an einen Nichtjuden vergeben kann. Im "Garten der Gerechten" in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem wurde ein Baum auf seinen Namen gepflanzt. Damit ist er einer unter nur 400 Deutschen, die so geehrt wurden.
Die Gedenktafel in Siegen und die Ehrung Walter Krämers durch den Staat Israel sollen kein Deckel auf der Auseinandersetzung mit Walter Krämer und Siegens nationalsozialistischer Vergangenheit sein, sondern Steine, die anstoßen. Erinnern braucht Anlässe. Sie werden uns täglich geliefert.
Im Aktiven Museum Südwestfalen beschäftigt sich heute ein eigener Ausstellungsteil mit der bemerkenswerten Geschichte von Walter Krämer und der Auseinandersetzung mit seiner Biographie.