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Wie der Glaube an die Partei verloren ging

Salomea Genin erzählt aus ihrem Leben als Jüdin und als Kommunistin in der DDR / „Ich folgte den falschen Göttern“

Verfasst am 01. Juni 2013

Von Jürgen Langenkämper

Petershagen (mt). Mittendrin stimmt Salomea Genin „Das Lied der Partei“ von Louis Fürnberg an. Die 80-Jährige singt gern – und gut. Als sie erkannte, dass der Kehrreim „Die Partei hat immer recht“ nicht stimmte, dachte die Alt-Kommunistin an Suizid.

Salomea Genin hat ein wechselvolles Leben geführt: Berlin, Melbourne, wieder Berlin, erst West, dann Ost. Davon liest sie aus ihrer Autobiografie „Ich folgte den falschen Göttern“ auf Einladung der Arbeitsgemeinschaft Alte Synagoge Petershagen. Der Saal des Alten Amtsgerichts ist gut gefüllt.

Ein halbes Jahr vor der Machtübergabe an die Nazis 1931 als jüngste Tochter osteuropäischer Juden in Berlin geboren, bekam die kleine Salomea schon früh Antisemitismus zu spüren. 1939 flüchtete Salomeas Mutter mit ihren beiden jüngsten Töchtern nach Australien, die älteste musste sich schon ein Jahr früher in Sicherheit bringen. Als Heranwachsende kam sie über aus Deutschland geflohene junge Juden in Kontakt zum kommunistischen Jugendverband.

Seit den frühen 1950ern wollte Salomea Genin, die sich in Australien nicht heimisch fühlte, in die DDR, weil sie glaubte, Faschismus und Antisemitismus seien dort überwunden. Zwischendurch arbeitete sie in England und West-Berlin. Dort nutzte die Stasi das Einwanderungsbegehren der jungen Frau, um sie für sich spionieren zu lassen.

Am 16. Mai 1963, also vor 50 Jahren, durfte sie endlich in ihr gelobtes Land übersiedeln.

Trotz Privilegierung als NS-Verfolgte und Alt-Kommunistin stieß Salomea Genin immer wieder an Grenzen, eckte durch ihre Offenheit an, durchlief ein ausgrenzendes Parteiverfahren und verlor nach und nach den Glauben an „die Partei“, ihre Funktionäre und Mitbürger. Schließlich wurde ihr bewusst: „Dieser Sozialismus hat nichts mit einer gerechten Gesellschaft zu tun, sondern ist ein Polizeistaat.“ Und sie selbst hatte dazu beigetragen, die DDR dazu zu machen. Diese Erkenntnis entzog ihr den Boden. Als es wegen ihres ältesten Sohnes 1982 erneut zu einem Konflikt kam, verfiel sie in eine jahrelange Depression.

Bekennende Atheistin als „eine der Religiösesten“

Nur durch die Aufarbeitung ihrer eigenen Vergangenheit, der Konflikte mit ihrer Mutter und den schonungslosen Umgang mit den eigenen Fehlern gelang es Salomea Genin mithilfe ihres Psychiaters, ihre Krise zu überwinden. So gestand sie noch vor der Wende der Leiterin einer evangelischen Akademie, sie im Auftrag der Stasi als IM bespitzelt zu haben. Später legte sie auch anderen gegenüber ihre Stasi-Vergangenheit offen auf den Tisch.

Salomea Genin charakterisiert sich phasenweise als „jüdische Antisemitin“, weil sie lange die jüdische ihrer vielen Identitäten ablehnte. Aber noch zu DDR-Zeiten suchte sie Kontakt zur jüdischen Gemeinde und wirkte ab Mitte der 1980er in einer Gruppe „Wir für uns“ mit. Dort sagte eine Bekannte schließlich zu der damals bekennenden Atheistin: „Du bist eine der Religiösesten, die ich kenne.“ Zehn Jahre lang habe sie sich religiös betätigt, zeitweise sogar Judaistik in Jerusalem studiert, „aber dann wieder das Interesse verloren, weil die konventionelle Religion zu eng ist“, sagt die heute 80-jährige in der regen Diskussion.

Zwei Stunden dauert der fesselnde Einblick in ein Leben mit vielen Seiten, mit mehreren Identitäten, in dem das Politische persönlich ist und das Persönliche politisch, wie Salomea Genin bekennt. Am Ende kann sie gar nicht so viele Bücher verkaufen und signieren, wie gewünscht werden, um zu Hause darin weiterzulesen.

Am Donnerstagmorgen schlossen sich Unterrichtseinheiten mit Schülern des Gymnasiums Petershagen an.

Salomea Genin, Ich folgte den falschen Göttern.

Eine australische Jüdin in der DDR,

2. überarbeitete Auflage, Berlin 2012,

Verlag für Berlin-Brandenburg, 336 Seiten, 19,95 Euro,

ISBN 978-3-942476-35-5.

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