Inhalt Seitenleiste

„Politik darf nicht das letzte Wort über den Menschen haben“

Zwischen schwierigen ethischen Grenzfragen und Lehren aus der Vergangenheit: Auf hohem Niveau setzen sich Jugendliche in der Villa ten Hompel zurzeit mit den NS-Medizinverbrechen auseinander. Lesungen und Diskussion mit Weihbischof

Verfasst am 28. Februar 2005

Die Todesursachen standen schon vorher fest. Sie wurden häufig frei erfunden oder aus geheimen Vorschlagslisten ausgewählt, als die „abgemeldeten“ Personen und Patienten noch lebten. Braune Ärzte führten Buch für die berüchtigten ‚Euthanasie‘-Akten, die in Fachchinesisch das verschleiern sollten, was nichts anderes bedeutete als systematische Vernichtung: Die Tötung von Menschen mit Behinderungen und von psychisch Kranken im Zweiten Weltkrieg. An grausame Details dieses Gasmordes und anderer Medizinverbrechen erinnerte eine engagierte Gruppe der Friedensschule Münster. Am Geschichtsort Villa ten Hompel beschrieb das Team, wie es sich durch Lektüre und Quellenarbeit auf eine Begegnung mit der NS-Gedenkstätte Sonnenstein in Sachsen vorbereitet.

Sonnenstein bei Pirna war einer von sechs Anstaltsorten in Deutschland und im besetzten Österreich, an dem der Gasmord in großem Stil durchgeführt wurde. Zur heutigen Gedenkstätte auf dem Gelände einer Behindertenwohneinrichtung und zu anderen NS-Erinnerungsorten führen regelmäßig Oberstufen-Exkursionen der Friedensschule, die Fachlehrer Jörg Simonsmeier und Norbert Just mit ihren Kollegen anbieten. Mit nach Pirna fahren in Kürze u.a. auch die Schüler Maya Albrecht, Vivien Ernesti, Maria Jacob, Tobias Lewe, Sebastian Lubritz, Dirk Münker, Melanie Rosenberg und Michael Vieth, die jetzt extra vor Interessierten von der Projektplanung berichteten.

Ihren Vortrag hörte vor allem ein Gast am Geschichtsort mit großem Interesse: Weihbischof Dr. Josef Voß, dem es ein zentrales Anliegen war, über Vergangenheit, Verantwortung sowie Maßstäbe von Lebensschutz und medizinischer Ethik, die sich gegenwärtig bei heiklen Grenz- und Forschungsfragen ergeben, zu diskutieren. „Politik darf nicht das letzte Wort über den Menschen haben“, warnte der Vertreter des Bistums. Und stieß damit bei den jungen Leuten auf Zustimmung.

Einige forderten in dem spannenden Meinungsaustausch allerdings auch dazu auf, die Erinnerung an die Opfer der ‚Euthanasie‘-Verbrechen nicht zu instrumentalisieren, um so die aktuellen Debatten über Bioethik oder Sterbehilfe in eine bestimmte Richtung zu lenken. Das Grundrecht, Menschenwürde zu achten und so ein Individuum niemals auf Krankheit, Behinderung oder gar auf „Wert“ und Nutzen zu reduzieren, müsse heute aber jedes staatliche und ärztliche Handeln binden.

Dass sich auch jüngere Schülerinnen und Schüler auf hohem Niveau mit dem schwierigen Geschichtskapitel NS-‚Euthanasie‘ auseinander setzen können, bewies eine weitere Veranstaltung in der Reihe „Medizin ohne Menschlichkeit“ am Geschichtsort Villa ten Hompel, die zurzeit gerade bei Schulen im Stadtgebiet auf enorme Resonanz stößt. So las die Münsteraner Buchautorin Elisabeth Zöller vor der Stufe 7 des Ratsgymnasiums aus ihrem jüngsten Werk „Anton oder die Zeit des unwerten Lebens“. Insbesondere Elisabeth Zöllers Ausführung, dass es den Jungen, der durch Glück und Rettungsverstecke dem Behindertenmord entkommen sei, in Münster wirklich gegeben habe, dass es sogar ein Verwandter von ihr gewesen sei, beeindruckte die 100 Zuhörer. Die Siebtklässler stellten ebenso einfühlsam und kompetent Rückfragen an die Schriftstellerin wie zuvor Neunt- und Zehntklässler der Johannes-Gutenberg-Realschule. Auch für die Hiltruper hatte Peter Seiler (Buchhandlung Schatzinsel) eine eigene Autorenlesung als Sondertermin organisiert.

zurück