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Offener Dialog, der alle Fragen zuließ

Eindrucksvolle Debatte der Oberstufe am „Georgs“ in Bocholt zu Geschichte und Gegenwart - Von Chemnitz bis zu den Kaufmanns, einer jüdischen Familie aus dem Münsterland - Neue „Erinnerungspatenschaft“ funktionierte als offenes Forum vor einer geplanten Auschwitz-Exkursion der Schule mit einem Gast aus der Villa ten Hompel in Münster.

Verfasst am 22. September 2018

Auftakt nach Maß für ein Auschwitz-Gedenkprojekt des St. Georg-Gymnasiums im westfälischen Bocholt: Über 180 Schülerinnen und Schüler diskutierten in der Aula des „Georgs“ Grundfragen zu Geschichte und Gegenwart, denn alle Angehörigen der Oberstufe sollten intensiven Einblick in das besondere Exkursionsvorhaben der Schule erhalten, um sich historisch sorgsam kundig machen zu können. Und um sich für die Gedenkstätten-Fahrt im Frühjahr aus einem wohlüberlegten Entscheid heraus freiwillig anmelden zu dürfen. Niemand müsse in 2019 gegen seinen Willen mit nach Auschwitz fahren. Keiner werde unterwegs mit unangebrachten Schuld- und Moralpredigten, mit Schock-Effekten oder verordneter Betroffenheit konfrontiert, unterstrichen Monika Wobben, Stefan Melis, Thomas Reimann und Martin Bachmann aus dem Lehrerkollegium. In einem Programmausblick machte Stefan Melis deutlich, wie über biographische Beispiele aus dem Bocholter Raum in der Vorbereitung gearbeitet werde – u.a. in Zusammenarbeit mit seinem pensionierten Lehrerkollegen und ausgewiesenen Kenner der regionalen Quellenlage, Hermann Oechtering.

 Bewusst wählte die Schule als offenes Informationsangebot in der Aula auch den didaktisch-methodisch neu konzipierten Zugang der persönlichen „Erinnerungspatenschaften“, der im Münsterland unter Schirmherrschaft von Regierungspräsidentin Dorothee Feller steht. Er soll die Weitergabe von biographischen Erfahrungen in der NS-Zeit über Generationsgrenzen hinweg in einem sach- und jugendgerechten Dialogstil ermöglichen. So berichtete der 44 Jahre alte Erinnerungspate Stefan Querl aus dem Team des Geschichtsortes Villa ten Hompel in Münster über das Verfolgungsschicksal des mit 91 Jahren verstorbenen jüdischen Zeitzeugen Hans Kaufmann aus Münster. Dieser lebte nach Ende des Zweiten Weltkriegs als Tischler in Stockholm und hielt engsten Kontakt zu Münster bis zu seinem Tode, weil ihm die Heimat ans Herz gewachsen war trotz der Entwurzelungen. Auch seine Kinder lehrte er Deutsch.

Im Alter von 14 Jahren hatte die Familie Kaufmann ihrem jüdischen Jungen aus Not und böser Vorahnung heraus mit seiner Schwester eine Flucht fort aus Hitler-Deutschland ermöglicht. Die Eltern entschieden sich in Münster zu bleiben trotz des antisemitischen Terrors. Hans Kaufmann entkam als Jugendlicher im Exil dank nichtjüdischer Rettungshelfer über das im Krieg besetzte Dänemark ins politisch neutrale Schweden, während die Eltern im Dezember 1941 von Münster aus ins Ghetto Riga im Baltikum deportiert wurden. Der Vater, Notar und Rechtsanwalt Ludwig Kaufmann, gilt als in Auschwitz verschollen und ermordet. Die Mutter Lucie Kaufmann wurde im Jahre 1945 aus dem Lager Stutthof bei Danzig befreit - heftig gezeichnet, schwer krank von KZ-Haft, Qual und bange Sorge um ihren Sohn bis zum Moment des Wiedersehens im Frieden, der völlig anders als erwartet ausfiel und der Mutter und Sohn noch lange beschäftigt hat.

Stefan Querl stand den Schülerinnen und Schüler zu diesen privaten Details aus Berichten des Zeitzeugens Rede und Antwort. Er berichtete dabei auch, wie sehr die schwedischen Nachkommen von Hans Kaufmann der derb-ironisch gemeinte deutsche Rap-Songvers zu den „definierten Körpern“ von Auschwitz belastet habe. Gefährlich sei, wenn ein heikles Kapitel der NS-Geschichte zu kommerziellen, zu Trash- oder zu hochpolitischen Zwecken heute verdrehend instrumentalisiert werde, meinte der Gast. Er ging auf alle Fragen im Spektrum von Chemnitz bis zu den Kaufmanns ein. Besonders interessiert erkundigten sich die jungen Zuhörerinnen und Zuhörer vom „Georgs“ nach guten Ideen, dem Antitsemitismus und Rassenhass heute mutig zu begegen. „Fangt im Kleinen an“, riet der Erinnerungspate, denn gefährlich sei, wenn eine Mehrheit passiv zu Unrecht, Vorurteilen, Hetze und Menschenverachtung schweige. „Genau das spielt Rechtsextremen nämlich in die Hände. Die Gewalt fängt oft mit Worten an.“ Bedrückende Belege für Übergriffe in Deutschland führte den Schülerinnen und Schülern ein TV-Magazinbeitrag vor Augen, den Thomas Reimann ausgesucht hatte.

Mehr zu den Erinnerungspaten online bei der Bezirksregierung auf

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