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70 Jahre nach der Pogromnacht: Münster erinnert eindrucksvoll an NS-Verfolgte und Opfer der Gewaltherrschaft

Zeitzeugengespräch zum Auftakt der stadtweiten Gedenkveranstaltungen im Annette-von-Droste-Hülshoff - Gymnasium

Verfasst am 03. November 2008

Begegnungen mit Holocaust-Überlebenden, historische Begehungen und neue Erkenntnisse im Stadtgebiet, wissenschaftlicher Austausch über besondere Forschungsvorhaben in der Villa ten Hompel, Aufführungen von Kompositionen aus Theresienstadt für junge Leute in den Städtischen Bühnen, Gedenken in der Synagoge: In ganz unterschiedlicher Form und auf vielen verschiedenen Wegen erinnert Münster in den kommenden Wochen an die antisemitischen Ausschreitungen im November 1938, die der Nationalsozialismus in seiner zynischen Sprache als "Reichskristallnacht" verharmloste und propagandistisch ausschlachtete.

Was in der Pogromnacht vor 70 Jahren geschah, führten heute zum Auftakt der Gedenkveranstaltungen die Zehntklässler des Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasiums vor Augen. Sie zitierten öffentlich historische Quellen und Ergebnisse eigener Recherchen, etwa anhand der Aufzeichnungen des Rabbiners Dr. Steinthal, der Gewalt, Zerstörungswut und Judenhass 1938 in Münster hatte miterleben müssen.

Schulleitung, Fachkonferenz Geschichte, die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Münster und die gesamte Jahrgangsstufe 10 hatten darüber hinaus Erna de Vries als Zeitzeugin offiziell nach Münster eingeladen. Der besondere Besuch der Holocaust-Überlebenden war u.a. durch eine Exkursion in die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen mit Mitarbeitern von Akademie Franz Hitze Haus und Villa ten Hompel vorbereitet worden. Die verschiedenen Generationen kamen in der Aula der Schule dadurch sofort intensiv ins Gespräch über die Geschichte unter dem Hakenkreuz, aber auch über aktuelle Probleme, Fremdenfeindlichkeit und Fragen des Miteinanders in der Gegenwart.

"Die Ausgrenzung war damals Stück für Stück schlimmer geworden, erst fast unmerklich, dann immer deutlicher vor aller Augen", so Erna de Vries, eine geborene Korn aus Kaiserslautern, die als junge Frau das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und das Frauen-KZ Ravensbrück überlebte - im Gegensatz zu ihrer Mutter und anderen Angehörigen. "Menschen sind verführbar, Ihr kennt sicher das Buch 'Die Welle'", mahnte Erna de Vries die Jugendlichen in Münster. Sie betonte jedoch auch mehrfach in ihren Schilderungen, dass es trotz Angst und Brutalität in der NS-Diktatur oft Mutige mit Rückgrat gegeben habe. Diese hatten sich damals gegen die Mehrheitsmeinung gestellt, sich mit Verfolgten solidarisiert oder einfach konkret im Stillen geholfen, wie sie ausführte: "Auch bei uns wurden Möbel zerschlagen und Hausrat zertrümmert, es sah entsetzlich aus. Wir waren wie gelähmt und hatten schreckliche Angst", beschrieb die gebürtige jüdische Pfälzerin. "Tatsächlich kamen kurz darauf aber Menschen zu uns, die uns etwas Heißes zu trinken und Brote brachten. Auch das gehört zu meiner persönlichen Erinnerung an die Pogromnacht und die folgenden Tage."

Sensibel und differenziert hakten die Schülerinnen und Schüler nach. Sie erkundigten sich bei der Zeitzeugin, ob durch das mehrfache Erzählen auch eigene Emotionen und Erinnerungen vielleicht verändert worden seien und wie es Erna de Vries nach Befreiung und Kriegsende persönlich ergangen sei. Zunächst fasste die Rückkehrerin aus Ravensbrück im Alltag wieder Fuß in Köln, wo sie ihren späteren Mann Josef de Vries kennen lernte. Auch er hatte mehrere Konzentrationslager überlebt. Das Paar zog nach Lathen im Emsland, wo Erna de Vries heute noch lebt und von Studierenden des kreativen Zusammenschlusses "Zeitlupe" in Münster filmisch eindrucksvoll porträtiert wurde. "Ich lebe hier in Deutschland ganz bewusst und auch voller Dankbarkeit, dass ich heute noch berichten kann - meine Mutter hatte die Hoffnung, dass wenigstens ich es schaffe."

Die Holocaust-Überlebende Erna de Vries (auf dem Foto in der Bildmitte) wurde sehr herzlich von Schulleiter Dr. Arnold Hermans (r.) und Stellvertreterin Bärbel Dahlhaus (2.v.r.) sowie ihren Geschichts-Fachkollegen Dr. Wolfhart Beck und Dr. Gundula Caspary (links bzw. links mittig) empfangen. Die Jugendlichen Friederike Klimek, Lutz Hein, Sarah Knappik, Leonie Backhaus, Lena Apolte, Maximilian Wegener und Jan Altaner (v.l. unten nach r.oben) hatten die gelungene Veranstaltung im Vorfeld vorbereitet und gestalteten sie gemeinsam mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern aus dem Jahrgang 10. Auch andere Stufen der Schule engagieren sich dieser Tage enorm auf unterschiedliche Weise für innovative Erinnerungsprojekte, so u.a. am Montag, 10. November, in der Schule, wenn dort weitere Gäste und Geschichtswissenschaftler zu einer Gesprächsrunde erwartet werden, u.a. Christoph Spieker, Leiter des Geschichtsorts Villa ten Hompel.

Über den 9. November als Tag in der wechselvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts wird der Historiker Prof. Dr. Hans-Ulrich Thamer vom Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität am Mittwoch, 5. November, 20 Uhr in der Villa ten Hompel referieren. Der öffentliche Vortrag ist eingebettet in eine Tagung "70 Jahre nach dem Pogrom vom 9. November 1938 im Münsterland" von Akademie Franz Hitze Haus, Geschichtsort Villa ten Hompel und Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Münster. Der Eintritt ist frei, frühes Erscheinen wird dringend empfohlen.

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