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Viele dachten, ich sei stumm Tamar Dreifuss, Holocaust-Überlebende, schildert Schülern ihre
DRENSTEINFURT J Auch wenn die Rollläden schon lange geschlossen
blieben, wurden die Schreie von Frauen und Kindern immer stärker. 70 000
Menschen wurden in Ponar erschossen. Sie mussten ihr eigenes Grab
schaufeln, wir konnten die Salven mitzählen, wenn sie erschossen
wurden, ließ Tamar Dreifuss, eine von knapp 200 Holocaust-Überlebenden
des Wilnaer Ghettos, ihre jugendliche Zuhörerschaft an ihren
Kindheitserlebnissen teilhaben. Die 70-Jährige las den Schülern der
Klasse 9 b der Städtischen Realschule im Rahmen der aktuellen
Ausstellung in der Alten Synagoge aus dem Buch ihrer Mutter Sag
niemals, das ist dein letzter Weg vor.
Dass unter Hitler unzählige Menschen umgekommen sind, war für die
Schüler nicht neu. Über die Verfolgung von Juden hatten die 28 Mädchen
und Jungen nicht zuletzt bei der Besprechung von Max Frischs Andorra
im Deutschunterricht gesprochen. Dies aber aus dem Mund einer Person zu
hören, die die Verfolgungen selbst miterlebt hat, ist ein anderes
Kaliber. Eine Erfahrung, die Katharina Schratz, Schülerin der 9b der
Städtischen Realschule, nach eigener Aussage noch etwas länger
beschäftigen wird. Dass die Juden einfach geblieben sind und dachten,
dass wird schon wieder alles gut, finde ich erschreckend, sagte Carolin
Salomon nach der Lesung. Beeindruckt hat die Neuntklässlerin vor allem
die Erzählung, wie Tamar Dreifuss auf dem Weg zum Konzentrationslager
mit ihrer Mutter vor den Augen der Soldaten geflüchtet war.
Sparsam gingen die Jugendlichen allerdings nach der Lesung mit
persönlichen Fragen an die Zeitzeugin um. Das muss sich erstmal
setzen, erklärte Carolin Salomon die Zurückhaltung. Ob man als Kind die
Angst der Erwachsenen gemerkt habe, wollte eine Klassenkameradin dann
wissen. Klar, ich durfte zum Beispiel mit niemandem sprechen. Viele
dachten, ich sei stumm. Es hat lange gedauert, bis ich wieder
kontaktfreudig war. Richtig verstanden habe ich das aber nicht, so
Dreifuss. Sie hatte bereits am Sonntag vor einem 15-köpfigen Publikum in
der Alten Synagoge auf Einladung der VHS, des Fördervereins Alte
Synagoge und des Kulturamtes der Stadt gelesen. J sud
Jana Sudhoff