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Zeitzeuge eröffnet Schülern neue Perspektiven

Hans Kaufmann berichtet in seiner Heimatstadt Münster von seiner Jugend während des Nationalsozialismus und der Flucht nach Schweden.

Verfasst am 22. Februar 2010

Die unvorstellbaren Verbrechen und Grausamkeiten, die an Menschen jüdischen Glaubens im nationalsozialistischen Deutschland verübt wurden, kennen die meisten Schüler nur aus Schulbüchern oder aus Dokumentationen im Fernsehen. Zeitzeugen hingegen erzählen diese Geschichte aus einem persönlichen und deutlich intensiveren Blickwinkel. Leider werden die Chancen, mit Zeitzeugen ins Gespräch zu kommen, immer seltener. In den nächsten Jahren wird sich der Geschichtsunterricht dieser Problematik stellen müssen, ohne noch lebende Zeitzeugen die wichtige Erinnerungsarbeit fortzusetzen.

Umso bedeutender ist für Jugendliche daher die Begegnung mit Menschen wie Hans Kaufmann, der Ausgrenzung und Verfolgung aufgrund seines jüdischen Glaubens miterleben musste und nun in seine Heimatstadt Münster zurückkehrte, um in Schulen und der Öffentlichkeit von seiner Geschichte zu berichten. Seine Erzählungen beinhalten zum einen die Erlebnisse der Reichspogromnacht in der Nacht vom 9. November 1938, als auch Familie Kaufmann in ihrem Haus überfallen und dieses mutwillig verwüstet wurde, zum anderen die erfolgreiche Flucht des jungen Hans nach Schweden über Dänemark einen Monat nach Kriegsbeginn. Diese Flucht trennt ihn als 14jährigen Jungen von seiner Familie, rettet ihn aber vor der Deportation in Ghettos oder Konzentrationslager. Das traurige Schicksal vieler Familienangehörigen oder Freunde, die wie sein Vater durch Nationalsozialisten ermordet wurden, prägen das Leben des heute mit seiner Frau Anna Kaufmann bei Stockholm lebenden Tischlers. Heute engagiert sich das Ehepaar im Jüdischen Museum Stockholm, wo sie mit schwedischen Jugendlichen über die nationalsozialistische Verfolgung der Juden diskutieren.

"Ihr habt zwar nicht die Verantwortung für die Vergangenheit, aber die Zukunft!"

Während seines Aufenthalts in Münster will Hans Kaufmann genau dies mit Jugendlichen der Schulen in Münster und Umgebung tun. So schilderte er am Freitag dem Leistungskurs Geschichte des Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasiums in Münster eindrucksvoll seine Erlebnisse. Dabei zeigte sich, dass besonders die lokalen Bezugspunkte für die Schülerinnen und Schüler interessant waren, wie der erste Wohnsitz in der Salzstraße oder die Situation in der Schule am Kanonengraben.
Kaufmann berichtete von seinen Erinnerungen an die zunehmende systematische Ausgrenzung der Juden in Münster aus der Sicht eines 10jährigen Jungen, der vorerst nur unbewusst und naiv die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen wahrnahm. Mit der steigenden Anzahl der Anfeindungen, dem Berufsverbot seines Vaters als Rechtsanwalt, der notwendigen Untervermietung des Hauses, der Abkehr von Freunden und Bekannten wurde jedoch auch dem jungen Hans bewusst, dass sich die Lebenssituation für Juden in Münster dramatisch verschlechterte.

Die Ausgrenzungen und Anfeindungen beschäftigten ihn auch nach Kriegsende, zum Beispiel bei seiner ersten Rückkehr nach Münster 1952: Bei jedem Menschen, den er zufällig auf der Straße traf, fragte er sich: „Was hat der wohl zur Zeit des Nationalsozialismus getan?“ Heute ist sein Blick nach Münster versöhnlicher, selbst wenn er seinen Geburtsort nicht mehr als Heimat bezeichnen könne. Doch er kommt gern, um mit Jugendlichen an ein Stück seiner Vergangenheit zu erinnern. Neben den vielen Diskriminierungs- und Verfolgungserfahrungen berichtet der 85-Jährige aber auch von Personen, die ihm und seiner Familie in der schwierigen Zeit halfen und damit Zivilcourage bewiesen haben.
Dies sei ihm wichtig, wie er den beeindruckten Schülerinnen und Schülern am Ende seines Besuches noch mit auf den Weg gibt, auch an diese Personen zu erinnern, gerade weil es auch heute noch schwierig sei, Gruppendruck zu widerstehen. Doch hätte diese aufrechte Haltung ihm in seiner Kindheit das Leben gerettet. Die heutige Jugend hätte zwar nicht die Verantwortung für die Vergangenheit, aber dafür umso mehr für die Zukunft, sagte er bestimmt. „Ihr müsst so etwas verhindern“, lautete sein Appell, "ich erzähle euch, damit ihr euren Enkelkindern erzählen könnt, was einmal war", nennt Kaufmann zum Schluss seine Motivation.

Schülerin lädt das Ehepaar nach Münster ein

Der Anstoß für seinen Besuch war aber ein anderer: Clara Determann, ebenfalls Schülerin am Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasium, hatte für ihren Beitrag zum Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten per Mail Kontakt mit Hans Kaufmann aufgenommen und als dieser merkte, dass sich auch in Deutschland Jugendliche für NS-Verfolgte interessieren, hat er sich gemeinsam mit seiner Frau auf den Weg gemacht. Für ihre Forschungsarbeit mit dem Titel „Hans Kaufmann – ein bescheidener Held“ wurde Clara Determann bereits mit dem NRW-Landespreis des Geschichtswettbewerbs ausgezeichnet. Auch die Schüler des Leistungskurses haben sich unter Anleitung ihres Lehrers Dr. Beck intensiv auf die Begegnung vorbereitet, indem sie die historischen Umstände in Archivbesuchen erschlossen oder das Schicksal der Familie Kaufmann mit Hilfe des Lexikons der jüdischen Familien in Münster untersucht haben. Dessen Mitherausgeberin und Autorin Gisela Möllenhoff hat das Zeitzeugengespräch genauso begleitet wie Manfred Schneider von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, die wie der Geschichtsort Villa ten Hompel, Mitglied des Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten NRW, dieses Treffen erst ermöglichten.

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