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Wohin geht die Reise der Erinnerung?

Bürgerinitiativen und Bahnchef Mehdorn streiten um Ausstellungen über NS-Deportationsopfer

Verfasst am 01. März 2008

Es ging nicht mehr vorwärts. Alle Beteiligten redeten nur noch übereinander anstatt miteinander. Die richtige Weichenstellung für eine Einigung war weit und breit nicht in Sicht. Anlass zum Streit bot die Ausstellung "11.000 jüdische Kinder - Mit der Reichsbahn in den Tod", die zwischen 2002 und 2004 auf mehreren französischen Bahnhöfen zu sehen war. Organisatorin Beate Klarsfeld wollte sie anschließend auch in Deutschland zeigen. Doch Bahnchef Hartmut Mehdorn wehrte sich energisch gegen eine Ausstellung zum Thema Holocaust auf seinen Haltestationen. Erst nach Gesprächen mit dem Bundesverkehrsminister lenkte die Deutsche Bahn AG Ende 2006 ein und erklärte sich bereit, eine eigene Wanderschau über die Deportationsfahrten zu konzipieren.

Auf ein Entgegenkommen der Bahn wollten mehrere Bürgerinitiativen da schon lange nicht mehr warten. Sie stellten lieber eine eigene Ausstellung auf die Beine und mieteten eine Lock mit mehreren Waggons. "Zug der Erinnerung" heißt der mobile Schauraum, der seit November 2007 auf Reisen ist und auf deutschen Bahnhöfen über das Schicksal von verschleppten und ermordeten Kindern aus ganz Europa berichtet. Im Januar dieses Jahres hat die Deutsche Bahn nun nachgelegt und präsentiert in ausgewählten Städten die Ausstellung "Sonderzüge in den Tod".

Erfolgreiche Ausstellung zunächst ohne Chance in Deutschland

Beate Klarsfeld ist eine hartnäckige Frau. Erfahren haben das schon NS-Verbrecher wie Klaus Barbie und Kurt Lischka. Mit akribischen Recherchen deckte die deutsch-französische Journalistin deren unbehelligte Existenzen in der Nachkriegsrepublik auf. Schmerzhaft war auch für Altkanzler Kurt Georg Kiesinger die Begegnung mit Klarsfeld. Für seine frühere NSDAP-Mitgliedschaft verpasste sie ihm Ende der 1960er Jahre eine Ohrfeige. Hartmut Mehdorn beeindruckte die resolute Frau zunächst wenig. 2003 bot Klarsfeld ihm an, die Ausstellung "11.000 jüdische Kinder - Mit der Reichsbahn in den Tod" auch auf deutschen Bahnhöfen zu zeigen. Die Wanderschau hatte Beate Klarsfeld mit ihrem Verein "Fils et Filles des Déportés Juifs de France" (Söhne und Töchter der aus Frankreich deportierten Juden) entwickelt und bereits seit einem Jahr unter Mithilfe der französischen Staatsbahn SNCF auf Frankreichs Bahnhöfen gezeigt. Weitere zwei Jahre sollte sie dort noch unterwegs sein, insgesamt machte sie auf 18 großen Reisestationen halt. In Deutschland aber wollte der Bahnchef die Ausstellung trotz des großen Erfolgs nicht zeigen.

"Die Reisenden sehen in der Ausstellung die Kinder vor der Deportation - lächelnde Kinder. Und sie lesen den Text, wann die Kinder deportiert und von ihren Eltern getrennt wurden. Dann nehmen die Reisenden ihren Zug und denken: Vor 60 Jahren wurden auf diesen Strecken diese Kinder nach Auschwitz deportiert?" Für Beate Klarsfeld stand von Beginn an fest: Am authentischen Ort wirken Ausstellungen viel stärker auf ihre Besucher als im Museum. Sie dringen in den Alltag der Menschen ein, verwirren durch eine neue Perspektive auf gewohnte Abläufe und machen die Realität der Ereignisse bewusst. Was im Nachbarland offensichtlich gelungen war, konnte die Führungsetage der Deutschen Bahn jedoch nicht überzeugen: "Auf Bahnhöfen herrscht Hast und Eile. Es sind keine Orte für ein derart ernstes Thema wie den Holocaust. Es kann dort keine seriöse, tiefgehende Befassung mit solch einem Thema geben", betonte Hartmut Mehdorn. "Shock and Go" funktioniere als Konzept nicht. Klarsfelds Vorwurf, Mehdorn zeige "kein Gefühl für die historische Verantwortung der Bahn", begegnete der Manager mit dem Hinweis auf das Bahnmuseum in Nürnberg. Die dortige Dauerausstellung befasse sich intensiv mit der Rolle der Reichsbahn im Nationalsozialismus. Zum Gedenken an die Opfer des Terrorregimes habe die DB AG zudem das "Mahnmal Gleis 17" am Berliner Bahnhof Grunewald errichtet. Von hier aus waren zahlreiche Deportationszüge in die Konzentrations- und Vernichtungslager gestartet.

Späte Einigung und eine anderer Weg zum Ziel

Nach einem langen, fast ausschließlich über die Medien geführten Streit, schaltete sich 2006 schließlich Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee in die Debatte ein. Er konnte erreichen, dass der oberste Bahner doch noch einlenkte. Mehdorn versprach, eine eigene Dokumentation über die Rolle der Reichsbahn im Holocaust erarbeiten zu lassen. Sie solle sowohl auf Bahnhöfen als auch in deren unmittelbarer Umgebung gezeigt werden. Beate Klarsfeld wurde gebeten, ihr gesammeltes Material für das Projekt zur Verfügung zu stellen.

Im Dezember 2006 stand der Entschluss für eine Wanderausstellung fest. Zuvor jedoch, als mit einer Zustimmung der Bahn noch nicht zu rechnen war, hatte sich bereits eine Gruppe aus mehreren deutschen Bürgerinitiativen zusammengefunden. Sie beschlossen als Reaktion auf Mehdorns ablehnende Haltung, ein eigenes Projekt zu starten, den "Zug der Erinnerung". Der Name ist nicht nur symbolisch zu verstehen: Die Initiatoren organisierten eine Dampflok, Baujahr 1921, und mehrere Waggons aus den 1960er Jahren. Im Innern des Zuges platzierten sie Tafeln mit den Lebensgeschichten jüdischer Kinder und anderer verschleppter Jugendlicher - zum Beispiel Söhne und Töchter von Sinti und Roma oder Gegnern des NS-Regimes. Dokumente und Fotos erzählen von den Transporten in die Konzentrationslager, illustrieren den Empfang der Deportationsbescheide, das Herrichten und Verlassen der Wohnungen, den Weg zu den Sammellagern und den wartenden Zügen. An Computerstationen können die Besucher nach Spuren der Opfer und ihrer Familien fahnden. In Filmsequenzen berichten die Überlebenden von der Tortur der Transporte. Auch die perfide Organisation, mit der die Täter von Reichsbahn, Reichsverkehrsministerium und SS die Fahrten vorbereiteten und durchführten, wird dem Besucher anhand von Karten und Plänen anschaulich präsentiert.

Ob sie ihre Ausstellung überhaupt auf deutschen Bahnhöfen zeigen dürften, war für die Initiatoren des Projekts nie eine Frage, die sie der Deutschen Bahn stellen wollten. Der als Veranstalter auftretende Verein "Zug der Erinnerung" buchte einfach einzelne Fahrtstrecken quer durchs Land. Das ist jedem privaten Anbieter von Verkehrsleistungen gestattet. Stimmen die technischen Voraussetzungen, muss die Bahn eine Nutzung des Schienennetzes zulassen. Seit Herbst 2007 fährt die mobile Schau nun durch Deutschland. Start war in Frankfurt, dann ging es durch Baden-Württemberg, Niedersachsen und Städte der ostdeutschen Bundesländer. In über 20 Bahnhöfen machte der Zug bereits Station, nun hat er auch Nordrhein-Westfalen erreicht. Erster Halt war in Dortmund, es folgen Bochum, Gelsenkirchen, Duisburg, Essen, Hagen, Wuppertal, Aachen, Siegen und Wiehl (genaue Termine finden sich auf der Homepage "Zug der Erinnerung", Link s. unten). Ob der Zug auch in die großen rheinischen Städte Köln und Düsseldorf kommt, ist noch unklar.

Umfangreiches Begleitprogramm

Insgesamt wird die rollende Ausstellung über 3.000 Kilometer entlang der ehemaligen Deportationsrouten zurücklegen. In jeder Stadt sind lokale Organisationen, Gedenkstätten und engagierte Einwohner dazu aufgerufen, sich mit Veranstaltungen am Rahmenprogramm zu beteiligen. Vor allem aber Schüler will der gemeinnützige Verein "Zug der Erinnerung" mit seinem Projekt ansprechen und zur Spurensuche animieren. In ihren Heimatorten sollen sie Lebenszeugnisse von deportierten Kindern und Jugendlichen ausfindig machen und für die Ausstellung vorbereiten. Bei jedem Halt des Zuges wird ein Waggon reserviert, in dem die Schüler dann ihre recherchierten Dokumente, Fotos und selbst verfassten Berichte präsentieren können. Der Verein sammelt das Material aus allen Städten und bewahrt es bis zum Ende der Reise auf. Es wird viel zusammenkommen, denn die Resonanz auf die Wanderausstellung ist groß. Über 85.000 Besucher haben die Veranstalter bereits gezählt. Bis zum 8. Mai, dem Jahrestag des Kriegsendes, wird der Zug noch unterwegs sein. Ziel ist das ehemalige Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, auch damals Endstation für viele der Deportierten. Bei einer Gedenkveranstaltung dort wollen die Zugbegleiter die gesammelten Fundstücke an einem Mahnmal niedergelegen und an die vielen Opfer des NS-Regimes erinnern.

"Sonderzüge in den Tod"

Wenn der "Zug der Erinnerung" in Auschwitz seinen vorerst letzten Halt erreicht haben wird, kommt die Wanderausstellung der Deutschen Bahn gerade nach NRW. Ab dem 18. Mai ist sie im Münsteraner Hauptbahnhof zu sehen. Eröffnet wurde die Schau bereits am 23. Januar im Berliner Regionalbahnhof am Potsdamer Platz. Bevor sie in Westfalen eintrifft, macht sie noch in Halle an der Saale und in Schwerin Station; weitere Städte folgen.

"Ohne den Einsatz der Eisenbahn wäre der systematische Mord an den europäischen Juden, Sinti und Roma nicht möglich gewesen", so lautet heute das offizielle Fazit der Deutschen Bahn AG für die Geschichtsbücher. Insgesamt etwa drei Millionen Menschen wurden unter dem NS-Regime mit Hilfe der Reichsbahn in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager verfrachtet. "Sonderzüge in den Tod - Die Deportation mit der Deutschen Reichsbahn" heißt daher auch die Wanderausstellung. Sie beleuchtet die vielfältigen Verstrickungen der Bahn in die Maschinerie des Holocausts und deckt die offene Kooperationsbereitschaft der Bahnfunktionäre mit dem nationalsozialistischen Regime auf. Erarbeitet wurde die Schau in Zusammenarbeit mit dem Centrum Judaicum und dem Deutschen Technikmuseum in Berlin. Sie beruht jedoch hauptsächlich auf der im Bahnmuseum Nürnberg gezeigten Dauerausstellung. Beate Klarsfeld durfte mit ihrem Material die Schau ergänzen. Bei ihren Recherchen zu den Deportationsfahrten aus Frankreich hatten die Journalistin und ihr Team alleine 800 jüdische Kinder aufgespürt, die ursprünglich aus Deutschland und Österreich stammten. Die Schicksale dieser Kinder bilden einen eigenen Teil der Ausstellung. Für Klarsfeld ist es am Ende ein Erfolg, zumal nun überhaupt eine Schau auf deutschen Bahnhöfen zu sehen ist.

Ähnlich wie beim "Zug der Erinnerung" bietet die Ausstellung von Ort zu Ort einen spezifischen Abschnitt. Hier stehen Biografien von NS-Opfern aus der jeweiligen Stadt im Vordergrund. Eine Tafel im Potsdamer Platz widmet sich zum Beispiel den Schicksalen der Berliner Brüder Hans und Gert Rosenthal: Gert, der jüngere Bruder, wurde im Herbst 1942 im Alter von zehn Jahren zusammen mit den Kameraden eines jüdischen Kinderheimes nach Riga gebracht und dort in einem Wald erschossen. Der 17-jährige Hans Rosenthal musste dagegen in einer Berliner Fabrik Zwangsarbeit leisten, konnte aber 1943 in einem Versteck untertauchen und überlebte. Sein späterer Lebensweg ist bekannt: Nach dem Krieg wurde Hans Rosenthal einer der populärsten Quizmaster im deutschen Fernsehen.

Streit um Kosten

Nun gibt es also zwei Ausstellungen zu einem bislang kaum beachteten Abschnitt der NS-Geschichte. Beide erfreuen sich einer hohen Besucherzahl und erhalten positive Kritiken. Trotzdem gibt es noch immer Streit zwischen den Beteiligten: Es geht um Geld. Für die Nutzung der Trassen und Bahnhöfe ist die Deutsche Bahn AG gesetzlich verpflichtet, Gebühren zu erheben. Beim "Zug der Erinnerung" möchte sie da keine Ausnahme machen. Die Kosten bedeuten aber eine hohe Belastung für die ehrenamtlichen Initiatoren des Projekts, das sich allein aus privaten Spenden und mit Unterstützung von Kooperationspartnern wie Gewerkschaftsverbänden, Stiftungen und Gedenkstätten finanziert. Nach Angaben des Trägervereins sind bislang allein bei der Bahn Gebühren in Höhe von 70.000 bis 80.000 Euro angelaufen. Schätzungen des Vereinsvorsitzenden Hans-Rüdiger Minow zufolge werden für die rollende Ausstellung insgesamt rund 500.000 bis 600.000 Euro an Kosten entstehen. Mittlerweile hat sich sogar der Verkehrsausschuss des Bundestages mit dem Fall beschäftigt. In einem Brief an Hartmut Mehdorn fordert eine seltene Koalition aller Fraktionen, der Konzern möge zumindest seine Einnahmen spenden, wenn er sie schon nicht erlassen kann. Eine positive Rückmeldung hat die Bahn bislang jedoch nicht gegeben. "Wir haben alles getan, um die Initiative zu unterstützen", betonte unlängst ein Sprecher des Unternehmens. Die richtige Weichenstellung, um auch diesen Streit noch zu beenden, ist momentan also nicht in Sicht.

von Stefan Becker

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