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WM - SPEZIAL: Fußball im Nationalsozialismus Teil 2 - Von polnischen Siegern und "unerwünschten Juden"
"Polska gol" schrieen die Anhänger ihrer Mannschaft und es muss wie eine kleine Befreiung geklungen haben. Bei jedem Tor war die Begeisterung der Fans groß, obwohl ihr Team dem Gegner wie fast immer klar überlegen war.
Das Besondere an den Erfolgen lag allerdings nicht am Spiel selbst, sondern am Ort, an dem die Partien ausgetragen wurden. Es war das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Während des Zweiten Weltkriegs waren sowohl Spieler als auch Fans von den Nationalsozialisten hierhin deportiert worden.
Fußball spielen in einem Konzentrationslager der Nationalsozialisten, in dem täglich Menschen auf grausame Art getötet wurden, das scheint aus heutiger Sicht nur schwer vorstellbar. Mussten schwerste Arbeit, unzureichende Ernährung, ständige Bedrohung, schlechteste Bedingungen für Hygiene und medizinische Betreuung die sportliche Betätigung nicht unmöglich machen? So oder ähnlich hat es auch die Forschung lange Zeit gesehen. Und doch gehörte der Sport nach Meinung des Wissenschaftlers Wolf Oschlies beinahe zum Lageralltag. Unter den Gefangenen befanden sich viele großartige Sportler, die schon nationale und internationale Titel gewonnen oder an bedeutenden Turnieren teilgenommen hatten. Sie wollten auch weiterhin Sport treiben. Und die KZ-Aufseher der SS ließen das zumeist auch zu. Denn Sport war für die Lagerwächter ein Mittel zum Zweck. Er diente als eine Art therapeutische Maßnahme, um die Häftlinge bei voller Gesundheit und damit arbeitsfähig zu halten oder als Ventil, um Spannungen unter den Gefangenen abzubauen und eine Abwechslung vom harten Lageralltag zu bieten. Aus dem KZ Theresienstadt ist überliefert, dass dort die sportliche Betätigung gelegentlich als Demonstration inszeniert wurde, wenn etwa Journalisten oder ausländische Beobachter zu Besuch waren.
Ob und in welcher Form Sport in Auschwitz betrieben wurde, wollten Forscher aus Krakau bereits vor 30 Jahren herausfinden. Im Herbst 1972 schickten sie einen Fragebogen an 372 Auschwitz-Überlebende und bekamen 62 Antworten zurück. Laut Aussagen der ehemaligen Häftlinge spielte sich der Lagersport in einer "Grauzone" ab. Er war prinzipiell verboten, wurde von der SS aber immer wieder toleriert. Fußball galt neben Boxen als klarer Favorit unter den Sportarten, da sich auch unter den Aufsehern Fußballfans befanden. Als Zuschauer beobachteten sie die Spiele, die 1942 zum ersten Mal ausgetragen wurden. Ab 1943/ 44 gab es dann nach Auskunft der Auschwitz-Überlebenden "beinahe regelmäßig Fußballturniere".
Die Partien fanden meist sonntags statt. Als Fußballfeld diente der große "Appellplatz". Es traten jeweils Mannschaften mit neun - manchmal auch nur sieben - Spielern gegeneinander an: Ein Torwart, zwei Verteidiger, drei Läufer und drei Stürmer. Überwiegend bildeten wohl die Arbeits-"Kommandos" auch die Teams. Daneben berichteten die Zeitgenossen von allen erdenklichen Kombinationen: Da spielten der "Krankenbau" gegen "Block 15", "alte Nummern" gegen "Zugänge", Polen gegen Deutsche, Österreicher, Russen, Franzosen oder "jüdische Mannschaften". Häufig kickten selbst Kapos und Gefangene zusammen in einem Team, was dazu führte, dass zumindest für die Dauer eines Spiels die "Distanz" zwischen Wärtern und Inhaftierten ein wenig kleiner wurde. An der Rangordnung im Lager ließen die SS-Männer aber auch während des Sports keinen Zweifel aufkommen. So bedrohten sie gelegentlich den polnischen Torhüter, wenn dieser in den Spielen gegen "deutsche" Mannschaften allzu gut hielt. Ein anderes Ergebnis als eine Niederlage wäre sonst gegen die spielerisch weit überlegenen polnischen Mannschaften kaum möglich gewesen. Denn nach Auschwitz wurden viele Starspieler berühmter Vorkriegsklubs wie Cracovia, Warta, Wisla oder Ruch verschleppt. Spielten die ehemaligen Profikicker zusammen, waren sie der "Angstgegner" jeder anderen nationalen Mannschaft. Zusätzlich angetrieben wurden sie durch die Anfeuerungsrufe ihrer Landsleute, für die die Erfolge ihrer Teams eine kurze Flucht aus dem Überlebenskampf des Lagers bedeuteten. Und so erklangen die "Polska gol"-Rufe bei jedem Tor immer wieder mit der gleichen Begeisterung.
Die Fußballspiele in Auschwitz fanden auf dem Höhepunkt der auf oberster Ebene organisierten Diskriminierungen und Massendeportationen statt. Viele der verfolgten und verschleppten Fußballspieler kehrten aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern nicht mehr zurück.
Doch angefangen hatte alles im kleinen, alltäglichen Rahmen.
Als der jüdische Fußballer Paul Cohn 1934 zum Vereinsjubiläum seines Klubs SG Wattenscheid 09 geht, steht am Eingang des Festsaals ein Schild: "Juden unerwünscht". Cohn ist Gründungsmitglied des 25 Jahre zuvor aufgebauten Vereins, wurde im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichnet. Doch die vergangenen Leistungen zählen nicht mehr. Nur der frühere Vereinsvorsitzende Friedrich Leppeler ehrt ihn mit einem Blumenstrauß. Neuer "Vereinsführer" - wie das Amt seit der Gleichschaltung der Klubs heißt - ist jetzt ein NSDAP-Mitglied.
Genau wie Cohn wurden in den Jahren 1933/ 34 schätzungsweise 40.000 jüdische Fußballer und Vereinsmitglieder aus nichtjüdischen, bürgerlichen Klubs ausgeschlossen. Die Zahl ist überraschend hoch, bedenkt man, dass sich seit der Jahrhundertwende zahlreiche jüdische Sportvereine gegründet hatten. Zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machtergreifung befanden sich jedoch nur ein bis zwei Prozent der ca. 500.000 in Deutschland lebenden Juden in rein jüdischen Turn- und Sportvereinen. Der Großteil der deutschen Juden setzte dagegen auf Anpassung und war vollständig in den paritätischen, bürgerlichen Vereinen integriert. Sporthistorikerin Cristiane Eisenberg sagt über die jüdische Minderheit in Deutschland: "Sie assimilierte sich mittels des Sports ins Bürgertum". Selbst als "Judenvereine" beschimpfte Klubs wie Bayern München, Tennis Borussia Berlin, die Stuttgarter Kickers oder Eintracht Frankfurt waren von ihrem Anspruch und ihrer Zusammensetzung her paritätische Vereine. Da sie aber von jüdischen Vereinsvorsitzenden geleitet oder von jüdischen Mäzenen gefördert wurden, zogen sie verstärkt jüdische Trainer und Spieler an. Diese fühlten sich in einem solchen Umfeld eher heimisch und sicher.
Bezeichnendes Beispiel für die Entwicklung des jüdischen Sport- und Fußballvereinswesens ist der 1881 gegründete Essener Turnerbund Schwarz-Weiß (ETB), einer der ältesten jüdischen Sportvereine überhaupt. Vom Gründungstag an stand der Klub für jedermann offen. Da die jüdischen Vereinsgründer ihre Religion nur sehr zurückhaltend ausübten und zumeist mittelständischen Unternehmerberufen nachgingen, besaß der Verein schon bald den Ruf als "bürgerlich" und nicht etwa als "jüdisch". Die jüdischen Mitglieder gerieten schnell zur Minderheit und als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, wurden die Nachfahren der ehemaligen Vereinsgründer genauso von ihren nichtjüdischen Vereinskameraden ausgeschlossen, wie es in jedem anderen nichtjüdischen, bürgerlichen Verein auch geschah.
Andere jüdische Vereinsmitglieder, wie der ETB-Torwart Henry Samson, kamen dem jedoch zuvor. Sie spürten schon Anfang der zwanziger Jahre einen latenten Antisemitismus im bürgerlich-nationalistischen Sportbetrieb. Als Reaktion auf die unterschwelligen Diskriminierungen verließen Samson und seine Sportkameraden ihre ehemaligen Vereine und gründeten 1923 den Turn- und Sportklub Hakoah Essen. Um am offiziellen Spielbetrieb teilnehmen zu dürfen, beantragte Hakoah ein Jahr später die Aufnahme in den Westdeutschen Spielverband (WSV). Wegen angeblicher "Überfüllung" der Essener Spielklassen lehnten die führenden WSV-Funktionäre das Aufnahmegesuch jedoch ab. Daher schloss sich Hakoah Essen 1925 gemeinsam mit anderen jüdischen Klubs zum "Verband jüdischer neutraler Turn- und Sportvereine (VINTUS)" zusammen. Neben dem VINTUS bestanden Mitte der zwanziger Jahre bereits zwei weitere jüdische Sportverbände: Zum einen der 1921 gegründete zionistische Deutsche Makkabi-Kreis, der das Ziel verfolgte, "Juden auf die Auswanderung vorzubereiten". Zum anderen der ebenfalls seit 1925 existierende Reichsbund "Schild", der dem national-konservativen Reichsbund Jüdischer Frontsoldaten (RJF) angeschlossen war und im Gegensatz zu den Makkabi-Vereinen auf Integration und Selbstbehauptung in der Gesellschaft setzte. 1933 schloss sich der VINTUS schließlich dem Makkabi-Verband an, um eine weitere Zersplitterung des jüdischen Sportbetriebs aufzuhalten. Auf Druck der Nationalsozialisten kam es dann 1935 auch noch zum Zusammenschluss mit dem "Schild".
Verboten wurden die jüdischen Sportklubs nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zunächst also nicht. Die Strategie der Reichsführung bestand darin, die Vereine weiter bestehen zu lassen, um so alle jüdischen Aktivitäten besser kanalisieren und kontrollieren zu können. Da jüdische Klubs nun in der Regel nur noch untereinander Wettkämpfe austragen durften, entstand nach 1933 ein rein jüdischer Spielbetrieb im Reich. Hinzu kamen ständige Schikanen durch die Behörden, die beispielsweise die Suche der Vereine nach geeigneten Spielstätten erheblich erschwerten. Um nicht das Ansehen des "Dritten Reiches" im Ausland zu beschädigen, sahen die Nationalsozialisten jedoch zunächst von weiteren Schritten ab. Denn mit den Olympischen Spielen von 1936 stand ein Höhepunkt nationalsozialistischer Propaganda und Selbstinszenierung vor der Tür. Kritik an einer zu auffälligen Diskriminierungspolitik oder im schlimmsten Fall einen Boykott von Staaten wie den USA wollte das Hitler-Regime unbedingt vermeiden.
Nach Abschluss der Olympischen Spiele verschärften sich allerdings die Repressionen für die jüdischen Vereine und als die Nationalsozialisten im November 1938 jüdische Geschäfte und Synagogen anzündeten, zerschlugen sie kurz darauf auch die jüdischen Sportklubs und Sportverbände. Der Auflösung von Vereinen und Verbänden folgten die Deportationen ihrer Mitglieder in Konzentrations- und Vernichtungslager. Auch berühmte jüdische Fußballer blieben nicht verschont. Die prominentesten Namen waren die ehemaligen Nationalspieler Julius Hirsch und Gottfried Fuchs. Hirsch absolvierte zwischen 1911 und 1913 als erster jüdischer Fußballer überhaupt Länderspiele für das deutsche Kaiserreich. Er kam insgesamt auf sieben Einsätze, sein Nationalmannschaftskollege Fuchs stand sechsmal auf dem Platz. Bei seinem wichtigsten Einsatz im Olympischen Fußballturnier von Stockholm erzielte Fuchs 1912 sogar einen Rekord, der noch heute unübertroffen ist: Er schoss 10 Tore in einem Länderspiel. Die glanzvolle Partie gegen Russland gewannen die Deutschen schließlich mit 16:0. Auch das ist heute noch Rekord.
Fuchs gelang 1937 gerade noch rechtzeitig die Flucht vor den Nationalsozialisten. Er wanderte nach Kanada aus und sollte nie mehr nach Deutschland zurückkehren. Über das Schicksal von Julius Hirsch berichtete die "Frankfurter Rundschau" 1997 in einem Artikel mit der Überschrift "Die Nazis brachten Nationalspieler Hirsch um". Hirsch beendete 1925 seine sportliche Laufbahn. Als er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten vom geplanten Ausschluss jüdischer Mitglieder aus den Sportvereinen hörte, schickte er seinem Heimatklub Karlsruher FV eine enttäuschte Austrittserklärung: "Leider muss ich nun bewegten Herzens meinem lieben KFV, dem ich seit 1902 angehöre, meinen Austritt anzeigen. Nicht unerwähnt möchte ich aber lassen, dass es in dem heute so gehassten Prügelkinde der deutschen Nation auch anständige Menschen und vielleicht noch viel mehr national denkende und auch durch die Tat bewiesene und durch das Herzblut vergossene Juden gibt." Mit dem letzten Satz spielte Hirsch auf seinen im Ersten Weltkrieg gefallenen Bruder Leopold an.
Kurz nach seinem Austritt aus dem KFV verlor Hirsch auch noch seinen Arbeitsplatz. Er versuchte sich danach als Trainer, erhielt aber keine langfristige Anstellung mehr. Als er von den Ereignissen in der Reichspogromnacht hörte, reichte er kurz darauf seine Scheidung ein, um seine evangelische Frau vor den Nazis zu schützen. Trotz aller Diskriminierungen blieb Hirsch jedoch in Deutschland, da er nicht an die Gerüchte über den Massenmord an den Juden glaubte und überzeugt davon war, dass ihm nichts passieren könne. Am 1. März 1943 wurde Julius Hirsch nach Auschwitz deportiert. Ob er dort noch einmal an einem Fußballspiel teilnahm, ist nicht bekannt.
Eines der aussagekräftigsten Symbole für den ungeheuren Niedergang des jüdischen Fußballs in Deutschland liegt wohl in der Konstellation des letzten Finales um die Deutsche Meisterschaft, bevor die Nationalsozialisten die Macht übernahmen: Am 12. Juni 1932 spielten die als "Judenklubs" bezeichneten Vereine Bayern München und Eintracht Frankfurt für lange Zeit zum letzten Mal um den höchsten Titel im deutschen Ballsport. "Wehmut und Trauer" empfindet daher auch der Publizist und Fußballexperte Dietrich Schulze-Marmeling "über den ungeheuerlichen Verlust, den der Holocaust - in diesem Falle aus der Perspektive der Sport- und Fußballfans - für die europäische Fußballkultur bedeutete".
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WM - SPEZIAL: Fußball im Nationalsozialismus
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