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WM - SPEZIAL: Fußball im Nationalsozialismus Teil 1 - Der FC Gelsenkirchen Schalke 04: Eine unpolitische Erfolgsgeschichte?
24. Juni 1934, Berliner Poststadion - im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft trifft der FC Gelsenkirchen Schalke 04 auf den 1. FC Nürnberg. Schalke gilt als Favorit auf den Titel. Bereits im Jahr zuvor standen die Schalker im Finale, unterlagen jedoch Fortuna Düsseldorf klar mit 3:0. Nun wollen sie unbedingt den ersten Meistertitel nach Gelsenkirchen holen. Garantieren sollen den Erfolg die beiden Stars der Mannschaft, die verschwägerten Mittelfeldspieler Ernst Kuzorra und Fritz Szepan. Am Tag des Endspiels sehen 65.000 Zuschauer im bis zum Rand gefüllten Berliner Poststadion ein packendes Spiel. Nach einer torlosen ersten Hälfte gehen die Nürnberger in der 54. Minute mit 1:0 in Führung. Aber Szepan und Kuzorra treiben das Schalker Spiel nach vorne und wehren sich gegen die erneute Finalniederlage. Zwei Minuten vor dem Ende erzielt Szepan per Kopf den Ausgleichstreffer. Die endgültige Wende bringt Kuzorra. Er schießt die Königsblauen in der letzten Spielminute doch noch zum ersehnten 2:1 Sieg.
Mit dem Titelgewinn beginnt eine fabelhafte Schalker Siegesserie: Bis 1942 gewinnt der Ruhrgebietsverein noch fünfmal die Deutsche Meisterschaft, holt 1937 den deutschen Pokal und ist bis 1944 unangefochtener Meister der regionalen "Gauliga Westfalen". Eine Erfolgsgeschichte, die in die Annalen des deutschen Fußballsports eingeht und wie sie heute in jeder Schalker Vereinschronik nachzulesen ist.
60 Jahre später, Frühjahr 2001, Gelsenkirchen - Der FC Gelsenkirchen Schalke 04 zieht in ein neues Stadion, die Arena AufSchalke. Als zwei Straßen in der Nähe der Arena einen Namen erhalten sollen, schlägt der FC Schalke 04 den Vertretern der Stadt Gelsenkirchen vor, sie nach den Spielerlegenden Ernst Kuzorra und Fritz Szepan zu benennen. Während der Beratungen in den städtischen Gremien kommt jedoch heraus, dass Fritz Szepan 1938 von der Enteignung jüdischer Bürger durch die Nationalsozialisten profitierte. Im Zuge der so genannten Arisierungen übernahm er zu einem günstigen Preis ein Textilwarengeschäft von seinen jüdischen Besitzern. Der Ruf des Spielers und des Vereins ist angekratzt. Da es noch keine kritische Untersuchung über die Beziehungen des Erfolgsklubs zum Regime Adolf Hitlers gibt, stehen auf einen Schlag mehrere Fragen im Raum: Profitierte der gesamte Verein von den Verbrechen der Nationalsozialisten, oder nur eine Einzelperson? Wie verhielt es sich im "Dritten Reich" mit der häufig betonten Trennung von Sport und Politik? Beruhten die großen Erfolge des Klubs vielleicht gar nicht auf sportlicher Leistung, sondern vielmehr auf der Einflussnahme führender NS-Persönlichkeiten?
Um Klarheit zu bekommen, erhält das Gelsenkirchener Institut für Stadtgeschichte vom Schalker Management den Auftrag, Nachforschungen anzustellen. Im Herbst 2004 präsentieren die Wissenschaftler Stefan Goch und Norbert Silberbach die Ergebnisse in der Studie "Zwischen Blau und Weiß liegt Grau". Ihre wichtigste These lautet: Es ist eine Illusion zu glauben, dass sich der Fußball im Nationalsozialismus völlig von politischen Einflüssen abschotten konnte.
Dabei zählte der Ballsport nie zu den Lieblingssportarten der Nationalsozialisten. Für die NS-Ideologen war Sport hauptsächlich ein Mittel zur Volksertüchtigung und stand vor allem in den Jahren kurz vor dem Zweiten Weltkrieg im Dienst der "Wehrhaftmachung des Volkes". In "Mein Kampf" schreibt Hitler über den Sportunterricht für die Jugend: "Diese Erziehung kann in großen Zügen schon die Vorbildung für den späteren Heeresdienst sein." Sport und Kampf waren also für die Nationalsozialisten stets untrennbar miteinander verbunden. Im Gegensatz zur NS-Ideologie stand beim Fußball aber immer das spielerische Element im Vordergrund. Kampf war hier nur ein Mittel zum Zweck. Schließlich lautete schon damals eine weit verbreitete Fußballphilosophie: Über den Kampf zum Spiel finden.
Obwohl der Charakter des Fußballsports und die NS-Sportideologie nicht recht zusammen passten, lieferten die Fußballspiele als Massenveranstaltungen eine Steilvorlage für die NS-Propaganda. Denn in den Stadien jubelten Anhänger aus allen gesellschaftlichen Gruppen ihrer Mannschaft gemeinsam zu. Ein wunderbarer Beweis für die vom Regime stets gepriesene "Volksgemeinschaft". Vor allem der FC Schalke 04 passte gut in dieses Bild. Als Verein aus dem Arbeitermilieu identifizierte man sich zwar mit der eigenen Herkunft - die Spieler hörten auf den Spitznamen "die Knappen" - gab sich nach außen aber bürgerlich und angepasst. In die politisch linke Arbeitersportbewegung trat der Klub nicht ein. Mit den großen Erfolgen der dreißiger Jahre kamen dann automatisch Anhänger aus allen Gesellschaftsschichten ins Stadion. Für die Volksgemeinschaftsideologie ließ sich die unpolitische Haltung des Vereins zusammen mit seinen großen Erfolgen leicht benutzen. 1936 erscheint "Das Buch vom Deutschen Fußballmeister". Darin schreiben die Autoren Heinz Berns und Hermann Wiersch über die Schalker Mannschaft: "Gerade die Mannen um Szepan und Kuzorra haben gefühlt, welche Kräfte in der Begeisterung einer ganzen Gemeinschaft stecken. [... ] In all diesem Sinne hat die Schalker Mannschaft eine besonders innige Beziehung zu den Voraussetzungen des Nationalsozialismus."
Die entscheidende Frage ist aber, ob diese angeblich innige Beziehung auf Gegenseitigkeit beruhte. Fühlte sich der Verein den Nationalsozialisten auch so eng verbunden? Wie reagierten die Verantwortlichen im Klub auf die Vereinnahmungsversuche?
Nach der Machtübernahme im Januar 1933 gingen die Nationalsozialisten in die Offensive und übten erheblichen Druck auf Vereine und Verbände aus. Der DFB und seine Mitglieder wurden gleichgeschaltet und nach dem Führerprinzip organisiert. Das bedeutete, alle Vereine bekamen eine Einheitssatzung vorgeschrieben und mussten einen "Vereinsführer" bestimmen. Von diesen erwartete das Regime eine Mitgliedschaft in der NSDAP. So trat auch die Vereinsführung des FC Schalke 04 mehrheitlich in die Partei ein. Da die entscheidenden Schalker Vorstandsmitglieder aber sowohl vor als auch nach 1933 nicht aktiv durch Bekenntnisse zum Nationalsozialismus auffielen, gehen Goch und Silberbach von einem Beitrittsmotiv "zwischen Opportunismus und Anpassung" aus. Heinrich Pieneck, langjähriger Geschäftsführer und dann Vereinsführer des Vereins, erklärte nach 1945, dass mit dem Beitritt in die Partei nur die Abwehr gegen die Sturmläufe der Nationalsozialisten gestärkt werden sollte: "Um aber unser mit viel Mühe und Idealismus aufgebautes Sportwerk nicht in die für uns fremden Hände gleiten zu lassen, beschloss der damalige Vorstand m. W. 1934, notgedrungen der Partei beizutreten, um den neuen Machthabern den Wind aus den Segeln zu nehmen."
Auch beim heutigen Revierrivalen Borussia Dortmund (BVB) blieb die NSDAP-Mitgliedschaft des Vereinsführers August Busse nur ein äußeres, unpolitisches Bekenntnis zum Nationalsozialismus. Busse ließ sogar zu, dass BVB-Platzwart Heinrich Czerkus auf der Kopiermaschine des Vereins gegen das NS-Regime gerichtete Handzettel und Flugblätter druckte. In der von Zeitgenossen vielfach beschworenen "BVB-Familie" stand die Solidarität unter Vereinskameraden anscheinend über jeder politischen Überzeugung. So sorgte beispielsweise der bekennende Nazi und SA-Mann Willi Röhr mit seinen Beziehungen für die Entlassung des inhaftierten Kommunisten und Klubkollegen Franz Hippler.
Unterstellt man den Vereinsfunktionären von Schalke und Dortmund, dass ihr politischer Schmusekurs mit dem NS-Regime wirklich nur dem Schutz des sportlichen Bereichs diente, so stellt sich die Frage nach dem erzielten Erfolg. War es zum Beispiel überhaupt möglich, die sportlichen Akteure vor politischer Vereinnahmung zu schützen?
Wie standen die Kicker selbst zum NS-Regime?
Auf den ersten Blick schienen zumindest die Spieler des FC Schalke 04 gar nicht geeignet, um sie als Helden des deutschen Volkes zu feiern. Denn in der Mannschaftsaufstellung zum Finale 1934 finden sich Namen wie Zajons, Kalwitzki, Przybylski oder Tibulsky. Das waren keine typisch deutschen Namen und auch Kuzorra und Szepan klangen eher weniger nach "arischer Herkunft", wie sie die NS-Rassenideologie für die Deutschen propagierte. Um bloß keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, setzte die Schalker Vereinsführung nach dem Finalsieg einen offenen Brief an die Sportzeitschrift "Kicker" auf. Das Schreiben enthält zu jedem Spieler einen Stammbaum, in dem u. a. sein Geburtsort und die Herkunft seiner Eltern dargestellt werden. Aus der Aufstellung, argumentierte der Verein, "ist einwandfrei zu ersehen, dass die Eltern unserer Spieler sämtlich im heutigen oder früheren Deutschland geboren und keine polnischen Emigranten sind." Tatsächlich besaßen alle Eltern die preußische bzw. deutsche Staatsbürgerschaft, gehörten aber zu den so genannten "Ruhrpolen", die Ende des 19. Jahrhunderts aus Ostpreußen, Schlesien oder Polen in die wachsende Industrieregion Ruhrgebiet zugewandert waren. Dort hatten sie sich in der Arbeiterschaft etabliert.
Gerade die Herkunft aus dem Arbeitermilieu machte die Schalker Spieler für die oftmals intellektuellenfeindliche NS-Propaganda beliebt. "Als Mannschaft mitten aus dem Volke seid ihr gerade den Nationalsozialisten sympathisch", bekundete ein führender Nationalsozialist beim Empfang der Meistermannschaft von 1934. An den "Sieg der Arbeiterklasse" soll angeblich auch Ernst Kuzorra geglaubt haben. "Das Buch vom Deutschen Fußballmeister" zitiert den Spieler mit ungewohnt klarer Rhetorik: "Und wir Schalker sind froh, mit dieser Arbeiterschaft zu leben, zu kämpfen und zu siegen. Ich will weiß Gott den so genannten Geistesarbeitern nicht zu nahe treten, aber ich glaube wohl: Wäre Schalke 04 eine Studentenmannschaft, mehr oder weniger eine Akademikermannschaft, [ ...] so würden wir das nicht geschafft haben, was wir schaffen konnten." Mit solchen Argumenten ist Kuzorra nach Meinung des Schalke Kenners und WAZ-Sportchefs Hans-Josef Justen sonst allerdings nie aufgefallen. Der Schalker Mannschaftskapitän galt nicht als großer Denker und war politisch kaum interessiert. So wurden ihm die Aussagen wohl größtenteils in den Mund gelegt.
Sich solchen Instrumentalisierungsversuchen zu entziehen, dürfte für die beiden Idole Kuzorra und Szepan wegen ihrer Berühmtheit grundsätzlich schwer gewesen sein. Andererseits scheinen sie sich auch nicht wirklich dagegen gewehrt zu haben. Beide sind wie ihr Mitspieler Hans Bornemann mit Datum 1. Mai 1937 als NSDAP-Mitglieder verzeichnet. Kein anderer Schalker Spieler trat in die Partei ein. Auf Plakaten, mit denen die Nationalsozialisten die Bevölkerung zu Pseudo-Wahlen und -Abstimmungen aufriefen, finden sich ihre Unterschriften. Und trotzdem gab es einen Unterschied in der Qualität, mit der Szepan und Kuzorra ihre Anpassungsbereitschaft zeigten. Denn ein so offensichtliches Foul wie Szepan, der bewiesenermaßen von den Arisierungen profitierte, beging Kuzorra nicht. Die größere Kooperationsbereitschaft des Nationalmannschaftskapitäns Szepan erkannte wohl auch Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten. Nach dem Schalker Finalsieg von 1939 holte er ihn als Berater in den "Führerrat des Reichsamtes für Fußball".
Eine Anekdote des ehemaligen Vereinskameradens Herbert Burdenski macht die unterschiedliche Nähe der beiden Ausnahmespieler zum Nationalsozialismus noch deutlicher. 1941 verlieren die Schalker das Finale um die Deutsche Meisterschaft gegen Rapid Wien nach einer 3:0 Führung noch mit 3:4. Für die gelungene Aufholjagd der Wiener sind mehrere umstrittene Schiedsrichterentscheidungen verantwortlich. Kuzorra vermutet Manipulationen durch die Politik. Denn zwischen dem "Altreich" und der angeschlossenen "Ostmark" besteht eine fußballerische Konkurrenz. Und nach zwei Schalker Meisterschaften in Folge, soll - so glaubt Kuzorra - nun eine österreichische Mannschaft den Titel holen. Als Reichssportführer von Tschammer und Osten dem Schalker Mannschaftskapitän die Silbernadel für den zweiten Platz überreichen will, weigert sich Kuzorra die Ehrung anzunehmen: "Dass wir hier verloren haben war Politik, kein Sport", raunzt er den obersten Sportfunktionär des Reichs an. Einen Empfänger fand die Auszeichnung aber dann doch noch. Fritz Szepan nahm die Silbernadel für den Vizemeister entgegen.
Mit seinem angeblichen Manipulationsvorwurf lag Kuzorra vermutlich dennoch falsch. Goch und Silberbach entdeckten bei ihren Recherchen keine Anzeichen für die bewusste Einflussnahme auf Spiele der Schalker Mannschaft. Wegen seiner Unberechenbarkeit waren gezielte Manipulationen im Fußball ohnehin nicht immer von Erfolg gekrönt. Schließlich ist der Ball ja rund. Wer den Spielausgang aber im Voraus nicht exakt vorhersagen kann, dem fällt es auch schwer, den Sport für seine Zwecke zu benutzen, erklärt der Sportsoziologe Hans Joachim Teichler. "Man hat versucht, den Fußball zu instrumentalisieren, aber mit dieser Sportart hat das Dritte Reich ja immer Pech gehabt." Das beste Beispiel ist die deutsche Nationalmannschaft:
07. August 1936, Berliner Poststadion, Zweite Runde des Olympischen Fußballturniers - Nach einem 9:0 Auftaktsieg gegen Luxemburg trifft die deutsche Nationalmannschaft auf den damaligen Fußballzwerg Norwegen. In Erwartung eines weiteren großartigen Sieges sind Hitler, Göring, Goebbels und andere NS-Größen ins Stadion gekommen. Die Nationalsozialisten scheinen den Ballsport als Propagandawaffe zu entdecken. Im Vorfeld der Begegnung schreibt Goebbels begeistert über das Potential des Fußballsports: "Das Spiel als Massensuggestion." Doch die Nationalmannschaft enttäuscht an diesem Tag bitter. Nichts ist zu sehen von den berühmten deutschen Tugenden. Am Ende steht es 0:2 für Norwegen, ein klassisches Eigentor für die Nationalsozialisten. Hitler verlässt angeblich wutentbrannt das Stadion. Die kurzfristig angebahnte Liaison zwischen Fußball und nationalsozialistischer Propaganda ist weitgehend beendet, bevor sie überhaupt angefangen hat. Zwei Jahre später bei der Fußballweltmeisterschaft im Land des Erzfeindes Frankreich kommt es noch schlimmer. Zum ersten Mal nach dem "Anschluss" Österreichs tritt eine großdeutsche Nationalmannschaft bei einem Turnier an. Der Fußball erhält als Propagandainstrument noch eine Chance. Er soll das neue Gemeinschaftsgefühl im Reich demonstrieren. In der frisch zusammen gewürfelten Mannschaft gibt es dieses Gemeinschaftsgefühl nur leider nicht. Die starken Einzelspieler können ihre jahrelange Rivalität nicht so einfach abschütteln und scheiden nach einem 4:2 gegen die Schweiz schon in der ersten Runde aus.
Nach Kriegsbeginn tritt die Nationalmannschaft nur noch gegen Länderteams aus den jeweils neu besetzten Gebieten an. In diesen Spielen soll sie mit Siegen die Überlegenheit des politischen Systems beweisen und den Vorsprung der "arischen Rasse" demonstrieren. Allerdings folgen weitere unerwünschte Niederlagen. Die gescheiterte Instrumentalisierung dürfte daher neben dem Krieg ein Grund für die Einstellung des internationalen Sportverkehrs im Jahre 1942 gewesen sein. Denn wie Goebbels in seinem Tagebuch schreibt, regte ein verlorenes Länderspiel die Leute mehr auf als eine verlorene Stadt in Russland.
Während sich die Nationalmannschaft bei den Machthabern aufgrund ihrer Erfolglosigkeit wenig beliebt machte, feierten die Gelsenkirchener Nationalsozialisten jeden Sieg der Schalker Spieler als Beleg für das propagierte Image vom deutschen Arbeiterhelden. Natürlich wollte die örtliche NS-Prominenz wie der Gelsenkirchener Bürgermeister Carl Böhmer vom Glanz des Erfolgsteams profitieren. Jede Schalker Meisterfeier nutzten Stadtführung und NSDAP-Vertreter zur Selbstdarstellung des Regimes und ihrer eigenen Person. Organisiert wurden die Feiern durch den NSDAP-Kreispropagandaleiter, der neben den blau-weißen Vereinsfarben auch ausreichend schwarz-weiß-rote Hakenkreuzfahnen hisste und Musikabteilungen der HJ sowie SA-Ehrenabordnungen als Empfangstruppen aufstellte. "Nicht enden wollende Heil!-Rufe [..] aus aller Mund" begrüßten dann die Schalker Mannschaft, wie Berns und Wiersch im "Buch vom Deutschen Fußballmeister" berichten. "Natürlich durfte der Fackelzug nicht fehlen, der am folgenden Abend bei ungeheurer Beteiligung stattfand. [...] Noch einmal eine kurze Siegerehrung, die ausklingt in ein Sieg Heil auf Führer und Volk, dann steigt brausend aus den Kehlen das Deutschland- und Horst-Wessel-Lied." Wirklich beeindrucken konnten die Vorstellungen vermutlich kaum. Begeisternde Empfänge waren den Spielern nicht neu. Schon nach dem Gewinn der Westdeutschen Meisterschaft 1932 sprach die Gelsenkirchener Zeitung von "Tausenden und Abertausenden Menschen", die ihrer Mannschaft eine triumphale Heimkehr bereiteten.
Keine inszenierte, sondern aufrichtige Unterstützung erhielten Verein und Spieler von einer anderen Gruppe, den Gelsenkirchener Juden. Vor allem der Metzger Leo Sauer war ein enthusiastischer FC Schalke 04-Anhänger und Förderer. Von ihm wird berichtet, dass er anlässlich einer Meisterfeier ein Schwein blau-weiß anstrich und beim Triumphzug durch die Stadt mitführte. Dem Spieler Ernst Kuzorra bezahlte Sauer den Führerschein und beschäftigte ihn als Fahrer. Als Kuzorra später ein eigenes Tabakwarengeschäft aufmachte, revanchierte er sich, indem er den Kindern jüdischer Kunden Karten für S04-Spiele besorgte.
Anhänger und inoffizielle Förderer des Fußballvereins durften die Juden sein, Mitglieder dagegen nicht mehr. Als der DFB im April 1933 den Ausschluss von Juden aus führenden Stellungen der Vereine beschloss, verabschiedete auch der FC Schalke 04 seinen 2. Vorsitzenden Dr. Paul Eichengrün. Ob die offensichtliche Diskriminierung der jüdischen Mitglieder aus eigener Überzeugung oder wiederum aus loyaler Anpassungsbereitschaft erfolgte, lässt sich heute nicht mehr aufklären. Die weiterhin gute Beziehung zu den jüdischen Geschäftsleuten und das Beispiel Ernst Kuzorras scheinen eher für die zweite Vermutung zu sprechen.
Der Umgang mit den Juden ist exemplarisch für das Verhalten des Gelsenkirchener Vereins im "Dritten Reich". Aktiv unterstützte die Vereinsführung das nationalsozialistische Regime nicht. Die Anpassungsbereitschaft der Verantwortlichen war dagegen groß. Alle geforderten Maßnahmen - von der Gleichschaltung bis zum Ausschluss der Juden - setzte der Vorstand bereitwillig und loyal um. Widerstand leistete der Verein zu keinem Zeitpunkt. Einige Mitglieder traten sogar in die NSDAP ein. Ob sie diesen Schritt aus politischer Überzeugung taten, oder wie Geschäftsführer Pieneck behauptet, um den sportlichen Bereich vor äußeren Einflüssen zu schützen, bleibt ungeklärt. Für den sportlichen Erfolg ließen sich Vereinsführung und Spieler gleichermaßen feiern. Die Anerkennung war verdient. Schließlich spielten die Mannen um Szepan und Kuzorra in den dreißiger Jahren mit Abstand den besten und attraktivsten Fußball. Ihre Erfolge verdankten sie ihrer sportlichen Stärke und nicht irgendwelchen Manipulationen oder Begünstigungen. Mit den Siegesfeiern begann aber gleichzeitig die Vereinnahmung durch die nationalsozialistische Propaganda, der sich die Kicker nur schwer entziehen konnten und von der sich auch keiner von ihnen deutlich distanzierte. Politisches Engagement zeigten Spieler wie Ernst Kuzorra allerdings nicht. Ihnen ging es hauptsächlich um den Sport. Die Ausnahme war Fritz Szepan, der eine auffällige Nähe zum Nationalsozialismus zeigte. Auf Kosten anderer profitierte er bewusst von den Verbrechen der Nazis.
War Fritz Szepan ein Einzelfall? Wie verhielt es sich in anderen Vereinen mit der Trennung von Sport und Politik im "Dritten Reich"? Bis heute gibt es wenige kritische Studien über das Verhältnis des populären Fußballsports zum NS-Regime. Von den Vereinen selbst in Auftrag gegebene Untersuchungen wie die von Goch und Silberbach oder die Arbeit "Der BVB in der NS-Zeit" von Gerd Kolbe haben Seltenheitswert. Dabei zeigt das Beispiel FC Gelsenkirchen Schalke 04 auch, dass zumeist ein bestimmter Anlass und die öffentliche Aufmerksamkeit notwendig sind, um die kritische Aufarbeitung der eigenen Vereinsgeschichte anzupacken. So wird man in den meisten Vereinschroniken auch weiterhin hauptsächlich die sportlichen Geschichten lesen können.
Lesen Sie hier:
WM-Spezial: Fußball im Nationalsozialismus
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