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Wissenschaftlich kommentierte Edition will entmystifizieren

Umstritten war das Projekt, welches das Institut für Zeitgeschichte in mehrjähriger Arbeit unter der Leitung von Dr. Christian Hartmann realisierte. Vorausschauend und notwendig, so die Einschätzung der Befürworter des Vorhabens, denn am 31. Dezember 2015 erloschen die Urheberrechte an Hitlers „Mein Kampf“ und damit das juristische Instrument, jegliche Neuauflage der Propagandaschrift zu verhindern. Seit dem 08. Januar 2016 kann die wissenschaftliche Edition mit mehr als 3500 Anmerkungen im Buchhandel erworben werden. 

Verfasst am 12. November 2015

Ziel der am kontrovers diskutierten Projekt beteiligten Historiker und wissenschaftlichen Mitarbeiter ist es, durch diese kommentierte Auflage Hitlers Hetzschrift zu entkräften und die Neuerscheinungen zu entmystifizieren. Hitlers propagandistischen Aussagen, der nationalsozialistischen Ideologie und seinen Lügen, die er in zwei Bänden in den Jahren 1924-26 während seiner Haftzeit und im Anschluss in Obersalzberg fertigstellte, wird mit den Mitteln der Wissenschaft entgegengetreten. Retrospektiv werden die vor dem Hintergrund einer sich an demokratischen Normen und Werten orientierten Gesellschaft nicht halt- und tragbaren Inhalte entkräftet durch die von der Wissenschaft vorgenommene Dekonstruktion. Besonders ist die Kontextualisierung der Inhalte, welche bis ins Jahr 1945 in den historischen Zusammenhang gestellt werden. Auf diese Art und Weise fokussiert die kritische Edition des einstmaligen „Bestsellers“ (u.a. in 18 Sprachen übersetzt) auch den Anspruch, einen Beitrag zur „historisch-politischen Aufklärung“ zu leisten, so das IfZ.

Hitlers „Mein Kampf“ umgab bis in die heutige Gegenwart eine Art „Aura“, indem es gleichzeitig Faszination auslöste, aber auch Abscheu und Ekel hervorrief bei denjenigen, die mit diesem Werk reflektiert in Kontakt kamen. Die Wirkungskraft der zwei Bände soll zerstört werden. Indem die nationalsozialistische Ideologie entlarvt und wissenschaftlich kommentiert wird, wird „Mein Kampf“ als Quelle erschlossen und dient der Aufarbeitung des Sachverhalts, dass hier eine Quelle vorliegt, die Auskunft über Zielperspektiven eines Autors gibt, die folgend durch ihn als Diktator realisiert worden sind. Hitlers zeitgenössische Ideologie wird in der Edition in starken Kontrast zur heutigen Forschung gestellt und verliert durch die Sachlichkeit der Auseinandersetzung seine Faszinationskraft.

"Mein Kampf" und andere Fundstücke - Devotionalien aus der NS-Zeit 

Hitlers „Mein Kampf“ erreichte bis 1945 eine Auflage von über 12 Millionen Exemplaren. Bis heute gibt es keine konkrete Zahl, wie viele Exemplare aus der NS-Zeit noch existieren. Nach 1945 wurden zahlreiche Exemplare vernichtet oder verschwanden aus der Öffentlichkeit. In der jungen Bundesrepublik wurde der Nachdruck ab 1949 verboten, die Exemplare von vor 1949 können bis heute etwa in antiquarischen Buchläden erworben werden. Immer wieder kommt es dazu, dass Gedenkstätten Anfragen erhalten, in denen es darum geht, dass das Buch bei dem Aufräumen von Dachboden oder Kellergeschoss nach dem Tod der Großeltern oder Eltern gefunden wird und die Angehörigen dieses  in Vergessenheit geratene Buch schnellstmöglich aus dem Haus haben wollen und die Gedenkstätten als ersten Ansprechpartner ansehen. Darüber hinaus finden sich oft noch weitere, interessante Fundstücke, die unbewusst oder eben mit Absicht in Vergessenheit geraten sollten. Im Internet tut sich mittlerweile ein fragwürdiger Markt für seltene Devotionalien aus der NS-Zeit auf. Das größte Unverständnis in diesem Kontext haben wohl der Diebstahl der Türen mit der zynischen Aufschrift „Arbeit macht frei“ der ehemaligen Konzentrationslager in Dachau und Auschwitz geerntet, die scheinbar unter Sammlern einen verabscheuungswürdigen ideellen Wert besitzen. Neben dieser kriminellen Beschaffung von materiellen Symbolen aus der NS-Zeit wurden Gegenstände wie Abzeichen, Ausrüstung und Bücher aber auch auf Flohmärkten zum Verkauf angeboten. Dieser Umgang mit Devotionalien ist problematisch, zeigt es doch oftmals eine völlig unreflektierte Herangehensweise und verleiht dem Material eine eigene Faszination.

 Aufarbeitung und Konzeptionierung - Umgang mit Devotionalien 

Dieser Faszination treten Gedenkstätten entschieden entgegen, indem sie sich der Aufgabe stellen, Devotionalien in das didaktische Konzept ihrer Ausstellungen zu integrieren. Ausstellungsstücke werden nicht gezeigt um des Zeigen Willens, sondern, ähnlich wie die neue Edition von Hitlers „Mein Kampf“, kontextualisiert und wissenschaftlich aufgearbeitet, um einem bloßen  „zur Schau stellen“ entgegenzuwirken. Bewusste Entscheidungen mit Blick auf die Darstellung erreichen, dass Devotionalien ihre Faszination und ihren Reiz für unerwünschte Besucher verlieren. So präsentiert beispielsweise die Wewelsburg als Erinnerungs- und Gedenkort im Rahmen ihrer Dauerausstellung, welche auch die Tätergruppe SS thematisiert eine SS- Uniform in einem Schaukasten, welche aber durch eine geschickte Konzeptionierung nicht unmittelbar und vollständig zugänglich ist und dadurch einen möglichen mystischen Charakter erst gar nicht entwickeln kann. Man muss sich als reflektierter Besucher bewusst diesem Gegenstand nähern und richtig hinsehen und kann die wissenschaftlichen Informationen erst gar nicht ausblenden. Auf diese Art der Herangehensweise wirken die Gedenkstätten konzeptionell sowohl einer Mystifizierung der Devotionalien, als auch einer unreflektierten „Selfie-Mentalität“ entgegen.

Die oftmals gespendeten, eher zufällig entdeckten Überreste können darüber hinaus  auch hinter den Kulissen Quellen für biografische Untersuchungsansätze sein. Zudem ermöglichen sie die Aussagen über das Aktionsfeld der NS-Symbolpolitik und auf  welche Art und Weise diese eine materielle und visuelle Alltagskultur schuf, stellen für die Gedenkstätten folglich einen großen Mehrwert dar und eröffnen neue Zugänge zur Vergangenheit, aber auch zur Erinnerungskultur.

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