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Wie Wissenschaft den Kurs der Politik veränderte…

Neuauflage von "Zwangssterilisation im Nationalsozialismus" von Gisela Bock erinnert an vergangenes Unrecht und an die Macht der Geschichtsforschung

Verfasst am 23. März 2011

Um dem vorherrschenden Postulat der „Rassenhygiene“ zu entsprechen, wurden unter dem nationalsozialistischen Regime in wenigen Jahren rund 400.000 erblich minderwertige Frauen und Männer gegen ihren Willen sterilisiert. Viele Jahre wurde darüber geschwiegen, die Opfer scheinbar vergessen, Schadensersatzansprüche über lange Zeit abgelehnt. Mit Gisela Bock und ihrer Habilitationsschrift erlangte die Aufarbeitung des Dritten Reiches eine neue Stufe der Transparenz. Neben anderen wissenschaftlichen Veröffentlichungen war auch ihr Werk "Zwangssterilisation im Nationalsozialismus" ausschlaggebend für eine politische Kursänderung.

Die 1986 publizierte Arbeit ist seit Langem vergriffen. Nach 24 Jahren begann das Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat aus Münster Ende 2010 mit dem Nachdruck.

Gisela Bock agierte als eine der Vorreiterinnen in der Entstehung und Institutionalisierung der Frauen und Geschlechtergeschichte. Die promovierte und habilitierte Feministin war in der Frauenbewegung der 70er Jahre aktiv, richtete in ihren zahlreichen Veröffentlichungen den Fokus auf die Frau in der Geschichte, insbesondere auf die Frauenpolitik im Nationalsozialismus. Nach internationaler Universitätslaufbahn war Prof. Dr. Gisela Bock zuletzt im Bereich der Geschichts- und Kulturwissenschaften an der Freien Universität in Berlin tätig, ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte legte sie auf die neuere Geschichte Westeuropas. (Seit 2007 ist sie im Ruhestand.)

Gedanke der "Rassenhygiene" ist älter als der deutsche Nationalsozialismus

Der Führer konnte es nicht länger dulden, dass erblich Minderwertige sich ungehindert fortpflanzen … Daher mußte der Führer, wollte er das deutsche Volk wiederaufrichten, dieses Gesetz erlassen.

Mit historischen Zitaten wie diesem von Erich Ristow aus dem Jahr 1935, leitet Gisela Bock den Leser auf direktem Weg in ihre Kapitel. Erklärt mit eigenen Worten, mit den perfiden Thesen Adolf Hitlers und seiner engsten Fürsprecher, wie sich in der deutschen Gesellschaft eine ideologische Trennung von hochwertigen und minderwertigen Menschen manifestierte. Und wie es dazu kommen konnte, dass über 400.000 Frauen und Männer gegen ihren Willen der Fruchtbarkeit beraubt wurden.

Die Klassifizierung zwischen wertvollem und minderwertigem Erbgut war nicht erst eine Idee des nationalsozialistischen Regimes. Während die Öffentlichkeit noch vor dem 1.Weltkrieg auf den Geburtenrückgang mit Geburtenfördernden, also pronatalistischen Maßnahmen reagiert hatte, wurde die Debatte zwischen 1918 und 1930 bereits von einer klaren "Klassentrennung" beherrscht. Ganz wie die ideologischen Vorreiter in Großbritannien, verfolgte die Ideologie der Eugenik der Weimarer Republik die Züchtung einer "Vitalrasse", noch nicht mit dem Ziel, eine "arisch reine", sondern vielmehr eine erbgesunde Menschheit zu produzieren. Als minderwertig degradierte Männer und Frauen, hatten keinen Wert in diesem Gedankenkonstrukt. Die Sorge vor einer "Entartung" der Menschheit, teilten in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch demokratische, sozialistische, liberale oder christliche Autoren, obgleich sie sich vor der nationalsozialistischen Machtübernahme nicht in realpolitischen Konsequenzen ausdrückte.

Nationalsozialistische "Aufartung" des Volkskörpers

Karl Binding und Alfred Hoche veröffentlichten 1920 ihr Schriftstück zur "Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens". Ein Gedanke, der über medizinische und juristische Fachkreise hinaus eine große Öffentlichkeit erreichte und vom NS-Regime in die ideologische Basis inkorporiert wurde. Unter dem Nationalsozialismus wurde die Kontrolle über Geburt und Reproduktion zum Primat des Staates erklärt. Kurz nach Hitlers Machtergreifung, am 14.07.1933, beschloss das Kabinett ein Gesetz zur erzwungenen Sterilisation von Männern und Frauen, zur "Verhütung erbkranken Nachwuchses". Zum Zwecke der Aufartung des Volkskörpers sollten ethnisch und eugenisch Minderwertige schnellstmöglich "ausgemerzt" werden. Der vom Volksmund betitelte "Hitlerschnitt", stand der euphemistischen Politiker-Sprache gegenüber. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) sei in erster Linie ein "Erbkrankheits"- oder vielmehr ein "Erbgesundheitsgesetz".

Während des nationalsozialistischen Regimes wurden über 400.000 Männer und Frauen amtlich als minderwertig erklärt und gegen ihren Willen sterilisiert. Tausende starben an den Folgen der stümperhaften Operationen. Wie hoch die Dunkelziffern nicht gemeldeter Fälle sind, lässt sich nur erahnen.

Nachkriegspolitik erklärt Zwangssterilisierungen für rechtsgültig

Bis in die 1980er Jahre kam den Opfern der Zwangssterilisationen im öffentlichen Leben keine Aufmerksamkeit zu.

Im Rahmen der Wiedergutmachungsbürokratie der Nachkriegszeit, welche durch das Bundesentschädigungsgesetz vom 29.Juni 1956 in Gang gesetzt wurde, galt eine Rehabilitierung Zwangssterilisierter als ausgeschlossen. Die politische Riege war sicher, das GzVeN sei frei von NS-Denken gewesen und nicht als Unrecht zu betrachten. In den Erörterungen nach 1945 wurden die Verfahren in den Erbgesundheits- und Erbgesundheitsobergerichten als "rechtsstaatliche Verfahren" bezeichnet, die ausschließlich von wissenschaftlich und medizinisch begründeten Entscheidungen gelenkt worden seien. Jegliche gesundheitliche Folgeschäden wurden geleugnet. Seelische und psychosomatische Erkrankungen verwies man in den Bereich immaterieller, nicht entschädigungspflichtiger Schäden.

Gisela Bock agiert als Pionierin in der Frauen- und Geschlechtergeschichte des Dritten Reiches

Dieser Irrglaube hielt sich bis in die 1980er Jahre, bis Historikerinnen und Historiker, wie Gisela Bock, eine Weiterführung dieser Politik unmöglich machten. Im Kontext eines neuen, auch international verbreiteten Interesses am Charakter der Rassenpolitik, wie auch der Frauen- und Geschlechtergeschichte, beginnt Gisela Bock mit den Forschungen ihrer Habilitation, schreibt über Entstehung, Programm, Realisierung, Akteure und Opfer der Sterilisationspolitik. Und veröffentlicht ihr Werk schließlich 1986 in einer gekürzten Fassung unter dem Titel "Zwangssterilisation im Nationalsozialismus – Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik". Sie betrachtet den Nationalsozialismus aus geschlechtsspezifischer Perspektive und stellt die Rolle der Frau in den Fokus der Analysen.

Bis in die 1980er Jahre herrschte im Diskurs über die "Aufarbeitung" die weit verbreitete Meinung, die NS-Frauenpolitik wäre ausschließlich pronatalistisch gewesen und mit einer allgemeinen Besserstellung von Müttern einhergegangen. Aber das exklusive Mutterideal galt nur für einen Bruchteil der Frauen. Die Politik der Ausmerzung sei auch Bestandteil der umfassenden Frauenpolitik des NS-Rassismus gewesen, ist sich Bock sicher. Die Hälfte aller 400.000 Zwangssterilisierten Menschen waren Frauen, die Geschichte zählt 200.000 vertriebene und 100.000 ermordete deutsch-jüdische Frauen, über 100.000 ermordete deutsche und nichtdeutsche "Zigeunerinnen", 60.000 ermordete weibliche Bewohnerinnen psychiatrischer Anstalten, viele Millionen nichtdeutsche jüdische und nicht jüdische Frauen, über 2 Millionen Fremd- und Zwangsarbeiterinnen in Deutschland. Rund 30.000 Frauen wurden aufgrund einer Abtreibung verurteilt. Die "Tötung" wertvollen Erbgutes wurde ebenso verachtet, wie das Leben minderwertiger Menschen.

Gisela Bock betrachtet die Sterilisationspolitik als eine der Formen nationalsozialistischen Rassismus und beschreibt neben theoretischen, wissenschaftlichen Komponenten, propagandistische, sprachliche, aber auch politische, institutionelle und soziale Anteile der Sterilisationspolitik.

Späte und zögerliche Rehabilitierung der Sterilisationsopfer

Veröffentlichungen wie die von Gisela Bock drängten den Bundestag 1986 erstmals dazu, den nationalsozialistischen Charakter im Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses einzugestehen. Von diesem Zeitpunkt an, deklarierte die politische Riege alle durch die Sterilisation verursachten gesundheitlichen und seelischen Leiden ohne Einschränkung als entschädigungspflichtig. Die Opfer der Zwangssterilisation wurden mit einer einmaligen Zuwendung von 5000 DM entschädigt. Zusätzlich dazu, erhielten alle Sterilisationsopfer monatliche Leistungen in Höhe von 100 DM (nach 1998 120DM) Wenn auch eine finanzielle Zuwendung natürlich nichts "wiedergutmachen" kann, so empfinden viele Betroffene die offizielle Anerkennung des ihnen erfahrenen Unrechts dennoch als Trost.

Gisela Bocks Buch nach 24 Jahren erneut veröffentlicht

In der Geschlechterforschung und in der Geschichte der frühen Neuzeit ist Gisela Bock schon lange eine unumgängliche Größe. Als Antwort auf das stete Interesse an der längst vergriffenen Publikation, begann das Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat nun Ende letzten Jahres mit dem Nachdruck.

Inhaltlich, so erklärt die Autorin, sei das Werk in wesentlichen Zügen gleich. Zugleich habe sie aber einige neuere, auch transnationale Studien eingearbeitet, die die Kenntnisse über Eugenik und Sterilisationspolitik vertieft haben. Den Untertitel „Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik“ habe sie dem aktuellen Stand der Diskussion angepasst und in „Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik“ umgewandelt.

Wenngleich die einst provokante und fortschrittliche Arbeit bereits vor 24 Jahren veröffentlicht wurde, hat ihre Forschung auch heute nicht an Aktualität verloren. Die späte und zögerliche Rehabilitierung der Zwangssterilisierten wurde erst vor wenigen Jahren abgeschlossen.

Bock, Gisela: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik. MV-Wissenschaft, Münster 2010. 504 Seiten, ISBN 978-3-86991-090-1.

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