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„Was gesagt werden muss, steht nun nicht gerade bei Grass“ Umgang mit NS-Vergangenheit und Nahost-Konflikt: Guides für KZ-Gedenkstättenfahrten von Akademie Franz Hitze Haus und Villa ten Hompel erkundeten acht Tage lang Jerusalem
„Was gesagt werden muss zum Nahostkonflikt, steht nun nicht gerade bei
Grass“. Diese Einsicht kam vielen der Seminarteilnehmenden aus Münster
sofort, als Mitte vergangener Woche die Debatten um das Gedicht des
Intellektuellen, um Israel und den Iran die ersten Kreise zogen und
zusehends brisanter wurden. Und während jetzt heftig um Antisemitismus
und Atomwaffen, um Altersstarrsinn, dichterische Freiheit und um die
Verhältnismäßigkeit des Einreiseverbots für den Nobelpreisträger
gestritten wird, erinnern sich die Guides für KZ-Gedenkstättenfahrten
von Franz Hitze Haus und Villa ten Hompel an die aus ihrer Sicht
wirklich wichtigen Momente des Aufenthalts im Nahen Osten: An die
intensive Begegnung mit einem Auschwitz- und Buchenwald-Überlebenden und
mit anderen Zeitzeugen, an den für Deutsche besonders schwierigen Umgang
mit Geschichte und Gegenwart Jerusalems und der gesamten Region, vor
allem aber an ihr Seminar in der Shoah-Gedenkstätte Yad Vashem auf dem
Herzl-Berg in der „Heiligen Stadt“, die religiös und politisch
umkämpft ist.
Acht Tage war die junge Gruppe zu Gast in der International School for
Holocaust Studies (ISHS) in Jerusalem, der zentralen Aus- und
Fortbildungseinrichtung von Yad Vashem, die mehr ermöglicht als nur
Geschichtskenntnisse zu vertiefen. Dr. Noa Mkayton, Leiterin der
deutschsprachigen Fachstelle in der europäischen Abteilung an der ISHS,
gestaltete gekonnt mit ihren israelischen Kollegen das Seminar für die
Multiplikatoren aus Münster. Zusätzliche Akzente setzten die
Katholisch-Soziale Akademie Franz Hitze Haus des Bistums Münster und der
Geschichtsort Villa ten Hompel der Stadt Münster, die den Teilnehmern
das auf ihre Fragen zugeschnittene Spezialprogramm ermöglichten: Handelt
es sich doch um genau jene Honorarkräfte, die Jugendliche aus dem
Münsterland häufig in Bergen-Belsen oder Buchenwald begleiten oder an
Projekttagen Strategien gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus,
Islamophobie, Rassismus und Rechtsextremismus entwickeln. „Aus der
Geschichte lernen?!“, so der Titel des außerschulischen Angebots, das
bundesweit Beachtung findet. Wie auch in Yad Vashem und bei den
Nahost-Experten, die das Münster-Quartett für die Reiseleitung,
Sebastian Lanwer, Stefan Querl, Philipp Erdmann und Martin Richter, als
Gesprächspartner ausgesucht hatten. Beispielsweise den Korrespondenten
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Hans-Christian Rößler. Für den
politischen Diskussionsabend mit Rößler wählte die Gruppe bewusst ein
Jerusalemer Seniorenzentrum für so genannte „Jeckes“, also
deutschsprachige Einwanderer, und andere früher europäische Juden, die
1948 zu Bürgern Israels wurden. Erste Kontakte in das Pflegeheim knüpfte
vor Jahren schon Horst Wiechers, Sprecher der Vereinigung von „Gegen
Vergessen – Für Demokratie“ im Münsterland. Auf eigene Kosten nahm
er als ein Gast an dem historisch-didaktischen Seminar und an den
Gesprächen teil.
Dass es bei den heiklen Geschichts- und Gegenwartsfragen nicht allein
um Faktenvermittlung, sondern ums Differenzieren und Analysieren geht,
dass Betroffenheit geweckt, aber jungen Menschen niemals „von oben“
verordnet werden sollte, gilt als eherner Konsens in der besonderen
Kooperation des Fachbereichs „Junge Akademie“ und der Villa ten Hompel
in Münster. Sie besteht seit Ende der 1990er Jahre und wurde im Jahre
2006 auch auf Exkursionen zur Geschichte der deutsch-deutschen Teilung
bis 1989/90 und des kommunistischen Unrechts ausgeweitet – ohne dabei
jedoch falsche „Erinnerungskonkurrenzen“ zu wecken oder
undifferenziert Diktatur-Erfahrungen oder Verfolgungsbeispiele gleich zu
setzen. Mit besonderem Interesse hörte das in Jerusalem der gebürtig aus
der Slowakei stammende Naftali Fürst, der als Kind das KZ Buchenwald
überlebt hatte – genau das Lager in Weimar, das auch nach 1945
unter den Vorzeichen des bald beginnenden Kalten Krieges weiter genutzt
worden war. Nicht als KZ, vielmehr als so genanntes „Speziallager Nr.
2“, in dem Entnazifizierung früh in politische Verfolgung und
Ermordung Andersdenkender durch die Kommunisten umschlug. Bis 1989/90
galten diese Verbrechen des großen „Bruders“ Sowjetunion als ein Tabu
in der antifaschistischen DDR-Staatsdoktrin. Mit den KZ-Greuel zu
vergleichen sind sie dennoch nicht, urteilen die Historiker zur
„doppelten Geschichte“ Buchenwalds, die sich 2007 dafür einsetzten,
dass Naftali Fürst am Holocaust-Gedenktag als Ehrengast und Zeitzeuge,
der durch die NS-Verbrechen ganze Zweige seiner Familie verloren hatte,
im Bundestag sprechen durfte. Heute lebt Naftali Fürst in Haifa am
Mittelmeer, fuhr aber extra einen Tag nach Jerusalem für das
Münster-Seminar.
Auch ein anderes, mit Scham belastetes Tabu sprachen die Gäste aus
Westfalen, zumeist Studenten der WWU, in dem sensiblen Dialog mit dem
79-Jährigen offen an: Die Formen sexueller Gewalt und Ausbeutung von
KZ-Häftlingen, vor allem von Frauen. So hatte die SS in ihrem
mörderisch-bürokratischen System in Buchenwald ein Bordell „zur
Hebung der Arbeitsmoral“ errichten lassen. Ausgerechnet an diesem Ort
entschieden damals die Köpfe des geheimen Lagerwiderstands, den von
Auschwitz und von Todesmärschen schon schwer gezeichneten Jungen zu
verstecken. „Als Kind habe ich von alledem noch nicht so viel
verstanden“, betont der Zeitzeuge in der Rückschau. „Erst lange nach
der Befreiung ist mir klar geworden, was die Frauen, die mir dort
halfen, selbst durchgemacht haben müssen.“
von: Stefan Querl

