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Was bleibt von der Delegationsreise?

In Abschlussgesprächen wurden Eindrücke ausgetauscht und künftige Kooperationsmöglichkeiten ausgelotet. Tief beeindruckt waren die Reisenden von der Vielfältigkeit der Erinnerungskulturen in Israel zwischen Moderne und Tradition. Erste Gegenbesuche sind für 2016 bereits fest geplant.

Verfasst am 11. Dezember 2015

Der letzte Tag vor der Abreise zurück nach Nordrhein-Westfalen wurde genutzt, um ein erstes Fazit zu ziehen und die Perspektiven für den weiteren Fachaustausch mit den israelischen Kolleginnen und Kollegen auszuloten. Zuallererst aber dankten alle Teilnehmenden Prof. Dr. Alfons Kenkmann und Daniel Gollmann vom Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten, Nicola Schwering und Bernd Fecke von der Staatskanzlei sowie Dr. Hans Wupper-Tewes und Bert Krause von der Landeszentrale für politische Bildung in NRW: Dank ihrer umsichtigen Organisation konnten sich die Mitreisenden bei dem dichten Programm völlig auf die Inhalte einlassen. Die Expertise und das Fachwissen aller drei beteiligten Stellen trugen maßgeblich zum Gelingen des Austauschs bei. Die Beteiligung der Landeszentrale für politische Bildung und der Staatskanzlei sei dabei auch als Zeichen zu verstehen, dass in NRW bei erinnerungskulturellen Fragen aktiv auf Gedenkstätten und zivilgesellschaftliches Engagement gesetzt werde, resümierte Landeszentralen-Vertreter Dr. Wupper-Tewes. Unter Eindruck des 20jährigen Jubiläums des Arbeitskreises hat dessen Vorsitzender Prof. Kenkmann diese bemerkenswerte Entwicklung pointiert zusammengefasst: „Die Gedenkstätten sind vom ungeliebten Stiefkind zum gefragten Partner der Politik geworden.“

Gesamteindruck: Allgegenwärtige Spannungen bei gleichzeitiger vitaler Vielfalt

Nicht zuletzt das abwechslungsreiche Programm mit den bewusst ausgewählten unterschiedlichen Einrichtungen hat bei allen Teilnehmenden die Wahrnehmung innerisraelischer und deutsch-israelischer Dynamiken geschärft. Bezogen auf die gegenwärtige politische Lage bedeutet das, die Heterogenität der israelischen Gesellschaften erkennen zu können. Auf der einen Seiten sei deren Spaltung allgegenwärtig, auch in den vielen Expertengesprächen wurde eine Resignation angesichts der aktuellen Situation immer wieder deutlich. Auf der anderen Seite sei die Vitalität und Lebensfreude an allen Stellen zu spüren, auch erinnerungskulturell und historisch-politisch sei die Vielfalt an Projekten beeindruckend, fasste beispielsweise Jürgen Scheffler aus Lemgo seine Eindrücke zusammen.

Während von Deutschland aus meist die Konflikte zwischen Israel und seinen Nachbarstaaten im Mittelpunkt der Medienberichterstattung stünden, spüre man im Land selber viel deutlicher die Spannungen zwischen israelischen Juden und Arabern. Das verdeutliche beispielsweise das den Alltag beherrschende, getrennte Schulsystem. Mit Blick auf Erinnerungskulturen und Gedenkstättenarbeit im Nahen Osten hat die Reise der Delegation verdeutlicht, wie zentral das Holocaust-Gedächtnis auch in seiner Vielfältigkeit für die israelische Identität ist und nicht selten für innerisraelische Politik instrumentalisiert wird. Mit diesem Wandel „from history to memory“, also einer bewussten und aktiven Konstruktion für eigene Ziele werde das kollektive Gedächtnis aber beispielsweise auch Teil von gegenwärtigen Konfliktlösungsstrategien. Unter Eindruck der unterschiedlichen Formen von Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte in Israel werde auch deutlich, dass eine Menschrechtsausrichtung von NS-Gedenkstätten nicht zwingend notwendig sei, wenn man dort natürlich dennoch meist mehr oder weniger direkt mit Menschenrechtsfragen konfrontiert werde, übertrug Landeszentralenmitarbeiter Dr. Wupper-Tewes die Erfahrungen auf die NRW-Gedenkstättenlandschaft.

Der Besuch im Nahen Osten hat aber auch gezeigt, dass Geschichte und Erinnerung in Israel eine deutlich größere Rolle spielen, was sich beispielsweise in dem Stundenumfang niederschlägt, der Gedenkstättenbesuchen eingeräumt wird. Daraus leitet sich für die NS-Gedenkstätten in NRW die schwerwiegende Frage ab, ob historisches Lernen an authentischen Orten in Deutschland fester in Lehrplänen verfestigt werden muss. Die Anwesenden waren sich einig, dass der Arbeitskreis hier bei den für die Lehrplanentwicklung zuständigen Stellen der Landesregierung die Bedeutung von Geschichtsvermittlung an außerschulischen Lernorten betonen könnte.

Schließlich haben sich auch die Gedenkstätten aus NRW gegenseitig besser kennengelernt, wie unter anderem Dr. Werner Jung, Leiter des NS-Dokumentationszentrums in Köln, betonte. So bot die Reise die Möglichkeit, sich in einer konstruktiven Gesprächskultur eine Woche lang intensiv inhaltlich miteinander auseinanderzusetzen und mit etwas Distanz gemeinsame Berührungspunkte zu finden. Rückblickend wurden Dynamiken deutlich und die Handlungsmöglichkeiten haben sich auf diese Weise auch erweitert.

Wie es weiter geht: Gegenbesuche mit Fachaustausch, Konferenz und Lesereise

Zuletzt wurden die auf die Zukunft gerichteten Vereinbarung zum Abschluss der Reise noch einmal zusammengefasst. Betont wurde zuerst, dass alle Lern- und Forschungsstättenbesuche durch den beidseitigen Austausch als Initialzündung für weitere Kooperationen genutzt werden können. Das gilt für die zentrale israelische Gedenkstätte Yad Vashem genauso wie für die vielen unterschiedlichen Einrichtungen wie das die Bildungs- und Begegnungsstätte Givat Haviva sowie das „Ghetto Fighters‘ House Museum“. Man darf gespannt sein, wie der Austausch mit den israelischen Kolleginnen und Kollegen ab nächstem Jahr in den Gedenkstätten Nordrhein-Westfalens praktisch vertieft wird. Denn neben gemeinsamen Konferenzen sind auch schon erste Forschungsperspektiven als Schwerpunkte für gedenkstättenpädagogische Kooperationen gesetzt worden.

Zuerst wurde dem German Desk der International School for Holocaust Education von Yad Vashem eine konkrete Einladung für die erste Jahreshälfte 2016 ausgesprochen. Angesichts neuer pädagogischer Materialen der israelischen Einrichtung mit Täterschwerpunkt soll der Austausch beispielsweise mit Besuchen der Einrichtungen in Köln, Wuppertal und Münster vorangetrieben werden. Denn Thema dieses Materials sind unter anderem in Bialystok an Verbrechen beteiligte Polizisten – die drei genannten Einrichtungen können mit weiteren Materialien und Perspektiven den bisherigen Arbeitsstand voranbringen!

Außerdem stehen, wie beispielsweise bei den Vorträgen von Mareike Böke (Dorsten) und Dr. Stefan Mühlhofer (Dortmund) deutlich wurde, die Gedenkstätten in NRW durch die Zuwanderung aus Syrien und anderen islamisch geprägten Ländern vor neuen Herausforderungen in ihrer Bildungsarbeit. Auch aus dem wachsenden Antisemitismus in Deutschland und der Debatte um die Integration von Menschenrechtsthemen in die Gedenkstättenarbeit leiten sich weitere Fragen ab, die durch die Erfahrungen der israelischen Kolleginnen und Kollegen vorangetrieben werden können. Deshalb soll eine internationale Methodenkonferenz zu interethnischem Geschichtslernen in Gedenkstätten in Nordrhein-Westfalen möglichst noch 2016 unter Federführung des Arbeitskreises organisiert werden, zu der auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vom Ghetto Fighters House und Givat Haviva eingeladen wurden.

Schließlich wurde noch der Vorschlag von Dr. Stefan Mühlhofer, ähnliche Kooperationen auch mit polnischen Einrichtungen aufzunehmen, mit allgemeiner Zustimmung aufgefasst. Die Beziehungen zum direkten Nachbarn müssen intensiviert werden, stimmten auch die Vertreter Landeszentrale für politische Bildung zu; die für Israel erprobten Kooperationen und Organisationsteams ließen sich hier wieder einsetzen. Prof. Alfons Kenkmann betonte, dass es bereits einzelne Kooperationen gebe und es grundsätzlich wichtig sei, „über den nationalen Tellerrand“ zu schauen. Langfristig wird so ein Austausch mit polnischen Gedenkstättenmitarbeiterinnen und -mitarbeitern für 2017 in den Blick genommen.

Unter Eindruck des Abendessens als Gäste bei Anita Haviv Horiner beschloss die Delegation, die deutsch-israelische Autorin zu einer Lesereise durch die Gedenkstätten einzuladen. Sie widmet sich der Erinnerungen an den Holocaust in der zweiten und dritten Generation. Auch diese Veranstaltungsreihe soll in der erprobten Kooperation von Arbeitskreis und Landeszentrale möglichst noch im kommenden Jahr, also 2016, stattfinden.

Am Ende steht die zentrale Erkenntnis, wie wichtig es ist, die unterschiedlichen Erinnerungen und innere Vielfalt in NRW und Israel kennenzulernen. Um die Verwerfungen, aber auch Ähnlichkeiten, die aus der Distanz oft verschwimmen, besser zu verstehen, gilt es den mit der Delegationsreise initiierten Austauschs nun zu verstetigen. Durch mehrere Veranstaltungen in unterschiedlichen Formaten wurde diese Absicht in konkrete Pläne verwandelt.

Bericht von Philipp Erdmann

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