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Sprechen als Last und Befreiung

Zu Besuch bei einer Auschwitz-Überlebenden in Israel, die ihr Schweigen bricht

Verfasst am 16. November 2009

Die kleine Windmühle hinter dem Haus des Seniorenzentrums nahe Netanya und der Mittelmeerküste Israels ist eher ein Zeichen als nur Zierde im Garten: Ein Stück Heimat, das sie an Europa erinnert. An die Niederlande, an denen Elly Cohen Paraira enorm hängt. Trotz ihrer Erlebnisse vor 1945. Die Zeit von Krieg, Verfolgung und Entrechtung unter dem Hakenkreuz hat jedoch Distanz geschaffen zwischen ihr und den nichtjüdischen Niederländern. Und einen Keil getrieben zwischen sie und die Deutschen, die damals die Besatzer im Königreich waren und die einheimische Helfershelfer hatten, die ihnen Juden auslieferten. Teils aus tiefbrauner Überzeugung, teils gegen Kopfgeld oder anderen "Lohn" fürs Kollaborieren. "Das kann ich nicht vergessen oder verzeihen", sagt die 82-Jährige in der Rückschau. "Israel wurde mein Zuhause, denn nach der Befreiung war meine Heimat für mich ein anderes, ein irgendwie fremdes Land geworden. Ich konnte vielen Menschen dort einfach nicht mehr vertrauen", schildert die Überlebende des Holocaust auf Englisch.

Deutsch geht ihr schwer über die Lippen, obwohl sie diese Sprache eigentlich gut beherrscht. "Nein, lieber auf Englisch", bittet sie.

Das Gespräch mit Historikern oder Schulklassen hat sie zuvor nie recht gesucht als Zeitzeugin, sich auch in ihrer eigenen Familie anfangs völlig bedeckt gehalten mit Erzählungen von früher. Jetzt empfing sie jedoch einen Mitarbeiter der Villa ten Hompel, denn mit der Zeit ist ein menschlich enges Vertrauensverhältnis zwischen dem Team am Geschichtsort der Stadt Münster und ihr gewachsen. Davor besuchten Stefan Querl von der Villa ten Hompel und Horst Wiechers, Sprecher des Vereins "Gegen Vergessen - Für Demokratie" in Westfalen und einer der Mitbegründer des Geschichtsortes am Kaiser-Wilhelm-Ring, im Sommer 2008 ihren inzwischen verstorbenen Ehemann Bob Cohen Paraira. In Verstecken, u.a. nahe der Ortschaft Rhenen, hatten er und seine Schwester Ellis Lehmann die Shoa überlebt. Das Schicksal der untergetauchten Familie und vor allem auch ihrer Unterstützer wurde in Interviewform eindrucksvoll festgehalten. Die DVD "Mijn Grebbeberg" ist aktuell nun auch mit deutschen Untertiteln in der Villa ten Hompel zum Selbstkostenpreis von 10 € erhältlich.

So sehr Elly Cohen Paraira das dankbar rührt, so zurückhaltend bleibt sie erst im Blick auf ihre eigene Leidensbiographie. "Mein Mann konnte doch von Hoffnung, Hilfe und Solidarität berichten", betont sie mehrfach und erklärt damit ihr eigenes jahrzehntelanges Schweigen. Sprechen ist für sie bis heute Last und Befreiung zugleich. "Ich habe im KZ ganz andere, sehr grausame Dinge erlebt, deshalb lieber keine Details. Dazu möchte ich nichts sagen." Bald nach ihrer Rückkehr aus Auschwitz ließ sie sich die zwangsweise eintätowierte Häftlingsnummer von ihrem Arm entfernen. Zurück blieben Narben, die man sieht. Oder im Dialog mit ihr spürt. "Ich bin doch keine Kuh", entfährt es ihr.

"Ich wollte diese Nummer nicht länger mit mir herumtragen. Nie wieder Auschwitz."

Ins niederländische Lager Vught bei Herzogenbusch waren das junge Mädchen aus Amsterdam und ihre Schwester verschleppt worden während der blutigen NS-Besatzungsherrschaft in Westeuropa. Für die Produktion in Werkstätten des Philips-Konzerns, später bei Telefunken im Deutschen Reich, hielten die Täter sie wie Sklavinnen. "Facharbeiter." Das Wort betont Elly Cohen Paraira plötzlich deutlich auf Deutsch. Diese Zuschreibung hat ihr und auch der Schwester im Häftlingsalltag geholfen - und später das Leben gerettet. "In mehreren Lagern bin ich gewesen, wir wurden hin- und her verschoben." Auch in Auschwitz. "Aber sie haben uns dort nicht umgebracht, weil wir kriegsnotwendig für sie waren."

Der Tod engster Angehöriger aus ihrer Familie, die Vernichtung von sechs Millionen Juden in Europa schmerzt sie bis heute unaussprechlich, viele Gedanken kreisen darum. Immer wieder. Doch einen Triumph, eine Freude, kann die verwitwete Kranken- und Kinderpflegerin trotz allem feiern, das nimmt sie sich jedenfalls vor. Die Tatsache, weit mehr als ein Dutzend Enkel zu haben. Enkel, die sie gerne besuchen und die Windmühle aus den Niederlanden in ihrem Gärtchen bestaunen. "Hitler hat unsere Familie und alle Juden vernichten wollen", sagt sie und deutet auf ein Familienfoto, auf dem sich die Kinder- und Enkelschar ihrer Größe nach wie Orgelpfeifen für Oma und Opa aufgestellt hatte. "Bei Gott, es ist ihm nicht gelungen. Das Bild ist ein Beweis dafür. Dafür kann ich nur jeden Tag wieder aufs Neue dankbar sein…."

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