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Provokation in Pulheim: Ist das noch Kunst? - Diskutieren Sie mit!

Ehemalige Synagoge wurde zur "Gaskammer"

Verfasst am 15. März 2006

Am vergangenen Sonntag leitete der Künstler Santiago Sierra Autoabgase in das frühere jüdische Gebetshaus in Pulheim-Stommeln und ließ Besucher den mit tödlichen Gasen gefüllten Raum mit Schutzmasken betreten. Sierra erklärte, er wolle mit dieser Aktion gegen "die Banalisierung der Erinnerung des Holocausts" angehen. Nach heftiger Kritik des Zentralrats der Juden in Deutschland sowie von Politikern und Künstlern soll das Projekt nun jedoch nicht wie geplant fortgesetzt werden.

Die Online-Redaktion der NS-Gedenkstätten in NRW möchte auch Sie dazu auffordern Ihre Meinung zum Thema in unserem Gästebuch zu äußern.

"245 Kubikmeter", mehr stand nicht auf der Einladungskarte, die Kunstinteressierte am vergangenen Sonntag zur ehemaligen Synagoge nach Pulheim-Stommeln in der Nähe von Köln gelockt hatte. Bekannt war nur, dass der international beachtete Künstler Santiago Sierra um elf Uhr sein neues Projekt in dem restaurierten Gotteshaus vorstellen wollte. Als die ersten Besucher allerdings am Vormittag an der Stommelner Hauptsraße eintrafen, erwartete sie dort nicht die übliche Eröffnung einer Vernissage. Stattdessen parkten vor dem früheren Bethaus sechs laufende Autos aus deren Auspuffrohren dicke, bis zu 80 Meter lange Schläuche die giftigen Abgase in das historische Gebäude leiteten. Aber damit nicht genug der Provokation: Wer schriftlich erklärte, auf eigene Gefahr zu handeln, bekam eine Atemschutzmaske aufgesetzt und durfte in Begleitung eines Feuerwehrmannes den mit einer tödlichen Dosis Kohlenmonoxid gefüllten Raum betreten.

Sehr rasch füllte sich im Laufe des Tages die Anmeldeliste für einen Besuch der Synagoge und am Ende des Eröffnungssonntags um 17 Uhr hatten bereits dutzende Interessierte einen kurzen Aufenthalt in der "Gaskammer" verbracht. Nach Verlassen der Synagoge zeigten sich viele Besucher sehr bewegt und häufig den Tränen nahe. "Damit muss ich erstmal fertig werden", gestand ein Mann aus Ratingen. "Es ist eine brutale Art des Erinnerns." Auch seine Begleiterin war tief betroffen: "Eigentlich hatte ich das Bedürfnis, in der Synagoge auf die Knie zu fallen."

Aber nicht jeder der Anwesenden wollte das Gebetshaus mit der Gasmaske auf dem Kopf betreten. Die Meinungen über die Aktion fielen vor Ort sehr unterschiedlich aus. Sie reichten vom Lob für den Mut des Künstlers bis hin zur Ablehnung einer solchen Kunstform als makaber und "abscheulich". Als bedrückend und alarmierend empfand der frühere Pulheimer Pfarrer Friedrich-Wilhelm Botterbuch die Aktion, denn das Wort allein reiche zur Erinnerung an den Holocaust nicht mehr aus. "Wenn man nichts Außergewöhnliches tut, kommt auch keine Aufregung zustande", kommentierte Botterbuch das Projekt.

Für außergewöhnliche Aktionen ist der 1966 in Madrid geborene Santiago Sierra bereits international bekannt. Mit seinen politischen Inszenierungen weist er provokant und bisweilen zynisch auf rassistische Ausgrenzungen und soziale Missstände hin. So färbte er bei der Biennale von Venedig Afrikanern die Haare blond, um sie in Europäer zu verwandeln oder ließ Prostituierten in Südamerika für wenig Geld eine Linie auf den Rücken tätowieren, um die Macht des Kapitals zu demonstrieren. Mit seinem aktuellen Projekt will er mit dem eingeübten Gedenken an den Nationalsozialismus brechen. Der kurze Titel "245 Kubimeter" bezieht sich auf den Rauminhalt der Synagoge, den er mit den giftigen Autoabgasen füllte. Die eigentliche Wirkung seines Projekts erzielt Sierra aber dadurch, dass er die Besucher mit der Gasmaske in den beklemmenden Raum schickt und die unsichtbare Bedrohung für das eigene Leben spüren lässt. Dadurch holt er seine Aktion aus der rein symbolischen Ebene heraus. Dass die Inszenierung für die Repräsentanten der Opfer eine Provokation darstellen musste und Widerspruch auslösen würde, war Sierra bewusst. Es ist genau diese Reaktion, die er mit seinem Projekt anstoßen wollte.

Und die Kritik kam auch prompt in scharfer Form. So bezeichnete der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan J. Kramer, die Aktion als "niveaulos" und als "eine Beleidigung der Opfer". Sie gehe "über die Grenzen dessen, was angemessen ist, weit hinaus". Zweifelsohne müssten neue Wege der Erinnerung an den Holocaust gefunden werden. Aber, so fragte Kramer, "wenn das die neue Form der Erinnerung ist, sollen wir dann Auschwitz wiedereröffnen und an die Besucher Gasmasken verteilen, um ein authentisches Erfahrungserlebnis zu bekommen?" Als geschmacklos, trotz aller Würdigung der Kunstfreiheit, empfindet Uwe Neumärker, Geschäftsführer der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas (Holocaust-Mahnmahl), die Synagogen-Aktion. Die vom Künstler kritisierte Banalisierung des Holocaust-Gedenkens in Deutschland könne er nicht feststellen. Neumärker meinte, dass der Staat mit großem Ernst auf diese Fragen eingehe. Lauter in seiner Kritik wurde der Kölner Autor und Holocaust-Überlebende Ralph Giordano. Er bezeichnete das Projekt als eine "Niedertracht sondergleichen". "Hätte Sierra auch nur die kleinste innere Beziehung zu der Welt der Opfer, hätte er sich sein Pulheimer Machwerk verkniffen", sagte Giordano am Montag und forderte das Ende der Aktion. Rückendeckung erhielt er dabei von Publizisten wie Henryk M. Broder oder Künstlern wie Christoph Schlingensief, die "245 Kubikmeter" ebenfalls kritisierten.

Überrascht von so viel Gegenwind zeigte sich der Bürgermeister der Stadt Pulheim Karl August Morisse. Eher sei man auf Proteste aus "Täterkreisen" als von Seiten des Zentralrats eingestellt gewesen. Er und die übrigen Kulturverantwortlichen der Stadt würden nicht begreifen, dass die Aktion eine Beleidigung der Opfer sein solle. Die Grauen erregenden Tatsachen des Holocaust würden in dem Projekt "offen benannt", meinte Morisse. Naivität oder geringe Erfahrung im Umgang mit Kunstaktionen zum Nationalsozialismus kann man der Stadt Pulheim nicht vorhalten. Denn seit 1990 das Projekt Synagoge Stommeln "Ein Ort - ein Raum - eine Arbeit" ins Leben gerufen wurde, kommt jedes Jahr ein international angesehener Künstler nach Pulheim und präsentiert eine neue Ausstellung oder Inszenierung. Viel Lob erhielt noch im letzten Jahr die Arbeit des Künstlers Sol LeWitt. Mit einer Mauer versperrte er den Zugang in den Gebetsraum der Synagoge, um so auf die Absolutheit auswegloser Trennung zwischen Menschen, Kulturen, Ethnien oder Religionen hinzuweisen. Für die Stadt Pulheim ist die Synagoge inzwischen ein "Denkmal im Wandel", das mit zeitgenössischer Kunst Offenheit, Toleranz und Respekt vor der Würde des Menschen anmahnen will.

Bürgermeister Morisse ließ daher auch nach der anfänglichen Kritik an dem diesjährigen Projekt verlauten, er stehe weiterhin hinter Sierra und würde allen Kritikern die Diskussion anbieten. An einen vorzeitigen Abbruch der Aktion, die ursprünglich bis Ende April jeweils sonntags, außer am Ostersonntag, stattfinden sollte, dachte die Stadt da noch nicht. Wegen der anhaltenden Kritik und auf Anregung der Kölner Synagogengemeinde entschlossen sich die Verantwortlichen allerdings zu Beginn der Woche, das Kunstprojekt vorerst doch zu stoppen.

Am Eröffnungstag noch der Synagoge ferngeblieben, will der Künstler Sierra nun anreisen, um mit den Kritikern über seine Aktion zu diskutieren und sie von dem Projekt zu überzeugen.

Aber nicht nur in Pulheim kann diskutiert werden. Aus Sicht der Gedenkstätten in NRW und seiner Besucher könnte sich beispielsweise die Frage stellen: Bieten sich (potentielle) Gedenkstätten als Orte für provokante Kunstaktionen an oder sollten sie besser eine zurückhaltende Form des Erinnerns wählen?

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