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Lokale Erinnerungsorte und ihre Bedeutung für die Erinnerungskultur in NRW

In ihrer Rede zum Gedenken an die Opfer der Pogromnacht am 9. November erörtert Dr. Ingrid Schupetta aktuelle Herausforderungen an die landesweite Gedenkstättenlandschaft

Verfasst am 12. November 2012

Ein Gastbeitrag von Dr. Ingrid Schupetta, Leiterin der Villa Merlaender, Gedenkstätte und NS-Dokumentationsstelle der Stadt Krefeld.

Kernaussagen:

Die Generation der Menschen, die noch persönliche Erfahrungen mit der NS-Diktatur gemacht haben, wird abgelöst von den nach 1945 geborenen. Damit wird der Nationalsozialismus unweigerlich zu Geschichte.
Abgelöst wird die Zeitgenossenschaft durch eine Erinnerungskultur, die Orte braucht, um die herum sich die die Vielfalt der Erinnerung organisieren kann. Erinnerung ist ohne Gesellschaft nicht denkbar, ohne Orte aber auch nicht.

A. Zeitzeugenschaft von Terror und Krieg

Sehr geehrte Damen und Herren,

vor wenigen Wochen hatte ich die Ehre, Paul Schaffer bei einem Besuch in Berlin zu begleiten. Als einer der letzten Auschwitz-Überlebenden war er von der Freien Universität eingeladen, um über seine Erinnerungen zu sprechen.
Paul Schaffer hat es sich zu einem persönlichen Ziel gemacht, seine Erfahrungen möglichst vielen Menschen mitzuteilen. In Frankreich, wo er seit seiner Befreiung 1945 lebt, geht er regelmäßig in Schulklassen. Er spricht über die Shoah und seine Deportation nach Auschwitz, über das Überleben im Arbeitslager und seine waghalsige Flucht bei der Evakuierung im Winter 1945. Niemand, der ihn je gehört hat, kann die Existenz von Auschwitz leugnen.

Seinen ersten Nachkriegsbesuch in Deutschland machte er im Januar 1965 als Zeuge im Auschwitz-Prozess in Frankfurt. Weitere Besuche im Land der Täter vermied er. Er wollte sich nicht die Frage stellen müssen, was ein potentielles Gegenüber 1933 bis 1945 getan hat. In den letzten Jahren war es für ihn einfacher, weil er nur noch wenige Menschen traf, die gleich alt oder älter waren.

Im Herbst 2012 hatte nun also meine Universität eingeladen und im Publikum saßen vorwiegend Fachleute. Meine Aufgabe an diesem Abend war es, den Ausführungen von Paul Schaffer zu folgen, ihn bei Bedarf mit einer deutschen Vokabel zu unterstützen und die Fragen aus dem Publikum zu moderieren.

Gegen Ende seiner Ausführungen suchte er den Blickkontakt zu mir und sagte: "Ich habe Auschwitz verlassen, aber Auschwitz hat mich nie verlassen.“

Und obwohl er damit einen anderen Überlebenden (Max Mannheimer), zitierte, lag in seinen Augen ein tiefes Schwarz.

Es traf mich unerwartet. Die einsetzende Fragerunde erschien mir plötzlich auf der einen Seite äußerst belanglos. Auf der anderen Seite erlaubte sie mir aber die schnelle Rückkehr in die distanzierte Position der Moderatorin.

Warum erzähle ich Ihnen das?

Als Leiterin der NS-Dokumentationsstelle der Stadt Krefeld habe ich es in den vergangenen Jahren mit einer ganzen Reihe von Menschen zu tun gehabt, die innerliche Wunden aus der NS-Zeit mit sich trugen und tragen. Ursache muss nicht das Extrem eines Lebenskampfes im Schatten der Gaskammern und Krematorien sein, es kann auch das reine kindliche Entsetzen betreffen, plötzlich von allen abgelehnt zu werden oder aus unerklärlichen Gründen nicht mehr das tun zu dürfen, was alle anderen tun.

Oder aus dem Kinderwagen heraus ansehen zu müssen, wie die Nachbarin sich in der Explosion einer Fliegerbombe praktisch in Luft auflöst.

Oder das Gefühl um Jugend und Glauben beraubt worden zu sein, im Dienste der schrecklichsten Verbrechen.

Oder auch das bleierne Schweigen, die chronischen Familiengeheimnisse, von denen alle etwas fühlten, über die aber niemand redete.

Nach meiner Erfahrung hatten die Zeitzeugen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa Geschichten zu erzählen, gegen die sich die Erlebnisse der Nachkriegsgenerationen vergleichsweise banal ausnehmen — so banal, dass es kaum einen Anknüpfungspunkt gibt. Nicht zuletzt deswegen spielten Zeitzeugen in dem kritischen Umgang mit dem nationalsozialistischen Erbe eine wichtige Rolle.

Ihre Stimmen wurden allerdings erst spät gehört. Noch 1974 stürzte sich der Auschwitz-Überlebende und Historiker Joseph Wulf aus Verzweiflung über die Ignoranz seiner Umwelt aus dem Fenster. Zu früh, denn kurz danach rückten die Überlebenden die Perspektiven der historischen Wissenschaften zurecht:

Vor dem Hintergrund ihrer endlich zur Kenntnis genommenen Erlebnisse konnte es nicht mehr nur um Faschismustheorien und Wahlstatistiken gehen, sondern um Menschlichkeit und Empathie — oder um die Verweigerung dieser Haltung durch Täter, Mitmacher und Zuseher in männlicher und weiblicher Form.

B. Gedenkstätten und Erinnerungsorte in NRW

Es ist der Lauf der Dinge: erlebte Geschichte wird aufgezeichnet, geht ein in das kollektive Gedächtnis oder sie versinkt in dem Strom des Vergessens. An was sich eine demokratisch organisierte Gesellschaft erinnert, ist stetig im Fluss. Die Bedeutung, die innerhalb der deutschen Gesellschaft dem Erinnern an den Nationalsozialismus und seiner Verbrechen zugemessen wird, ist dabei in den letzten Jahren nach meinem Eindruck eher gestiegen als gesunken.

Kein Fernsehtag ohne History-Doku, Enthüllungen über Nazi-Promis oder sonstige Bezüge auf die NS-Vergangenheit. In der deutschen Hauptstadt nimmt das Holocaust-Mahnmal einen zentralen Platz ein. In der ganzen Republik hat sich die Idee eines flächendeckenden Mahnmals, der „Stolpersteine“ des Kölner Landart-Künstlers Gunter Demnig, längst zu einem Projekt ausgewachsen, das sich weitgehend verselbstständigt hat und andere Erinnerungskulturen zu überwuchern droht.

In Nordrhein-Westfalen sind seit den 1980er Jahren flächendeckend Erinnerungszeichen an Synagogenstandorten entstanden, an vielen Orten auch Mahnmale für Verfolgte aus rassistischen und politischen Gründen. Zusätzlich sind über zwanzig Gedenkstätten und lokale Erinnerungsorte gegründet worden, an denen hauptamtliches Personal arbeitet.

Sie sind an sehr unterschiedliche Gegebenheiten geknüpft: an die Alte Synagoge in Essen, das Gestapo-Gefängnis in Köln, die Villa des ermordeten Kaufmanns Richard Merländer in Krefeld, um nur einige Beispiele aus der Nachbarschaft zu nennen. Zum Teil befinden sie sich in der Trägerschaft von Kommunen, zum Teil in der von Vereinen. Allen Gedenkstätten ist jedoch bis heute das Anliegen gemeinsam, den Opfern mit Bild und Lebenslauf zu gedenken. Die lokalen Gedenkstätten zeigen, wie der totale Stadt in jeden Winkel des öffentlichen und privaten Lebens eingriff.

Und — die Erinnerungsstätten vor Ort haben das Verstummen der Zeitzeugen längst in ihrer täglichen Arbeit kompensiert. Sie haben Stimmen und Bilder konserviert, analysiert, katalogisiert und setzen sie gezielt in ihrer musealen Präsentation und in ihrer Bildungsarbeit ein. Wobei selbstverständlich ist: eine noch so perfekte Aufzeichnung kann niemals den Zauber einer persönlichen Begegnung ersetzen.

Eine gewisse Kompensation des emotionalen Gehalts persönlicher Begegnung kann die Aura eines authentischen Ortes bieten. Jeder und jedem sollte unmittelbar nachvollziehbar sein, dass die Geschichte der Demütigung Richard Merländers in seinem Wohnzimmer erzählt, eine andere Qualität hat, als die gleiche Beschreibung in einem nüchternen Unterrichtsraum. Es ist also möglich, über den Ort einen anderen Bereich der Wahrnehmung zu erreichen, als mit der reinen Erzählung. Ich finde es bemerkenswert, dass dies ohne emotionale Überwältigung geschehen kann, die gerade bei Jugendlichen berechtigte Reaktionen von Abwehr erzeugt.

Gedenkstätten sind außerschulische Lernorte besonderer Art. Anders als historische Museen haben sie keine andere Wahl als Stellung beziehen. Ohne einen gemeinsamen Bezugspunkt – die Akzeptanz allgemeiner Menschen- und Bürgerrechte – machen Gedenkstätten keinen Sinn.  Deswegen geht es angesichts des Nationalsozialismus immer auch gleich um die großen Themen:

• Freiheit gegen Diktatur,
• Gleichheit gegen Rassismus und
• Brüderlichkeit gegen Ausgrenzung.

C. Erinnerungskultur und die Vielfalt der Perspektiven

Mit einigem Recht könnte man in Nordrhein-Westfalen von einer blühenden Gedenkstättenlandschaft sprechen. Die Schwerpunktthemen sind sehr differenziert. Um nur einige Beispiele zu nennen: Jüdisches Leben im Bergischen Land, Zwangsarbeit in Oberhausen, Polizei und Wiedergutmachung in Münster, SS und Verbrechen in der Wewelsburg. Die Einrichtung der Gedenkstätten ist nicht von zentraler Stelle gelenkt und über das Land verteilt worden, sondern das Ergebnis von Bürgerengagement.

Hinter jeder Gedenkstätte stehen also Bürgerinnen und Bürger, denen genau diese Einrichtung wichtig war und ist. Sie kümmern sich darum, dass „ihre“ Gedenkstätte die ihr zugedachte Rolle spielen kann. Auch dass sorgt für eine Vielfalt der Perspektiven, die für den Gedenkstättenstandort Nordrhein-Westfalen charakteristisch ist.

Anders als die pädagogische Theorie sind die Gedenkstätten jeden Tag mit den Realitäten vor Ort beschäftigt. Schulklassen, in denen autochthone Deutsche unter sich sind, kommen nur noch selten vor. Die Maxime „Grabe in deiner Familie“ kann dabei zu überraschenden Ergebnisse führen.

Umgehen müssen die Gedenkstätten auch mit wechselnden Gewichtungen des Geschichtsunterrichts im Allgemeinen und mit wechselnder Gewichtung des Nationalsozialismus im Besonderen. Initiativen wie „Erinnern Ermöglichen“ führen zu mehr Interesse an Auschwitz-Fahrten und – zum Glück - zu mehr Nachfragen bei den Einrichtungen vor Ort.

Mit der Einführung kürzerer Schulzeiten kommen nun die Schüler jüngerer Jahrgänge in die Gedenkstätten. Nach meiner Beobachtung ist dies keine pädagogische Planung.

Mit dem kollektiven Ausscheiden der in den 1970er Jahren eingestellten Lehrerjahrgänge ändert sich auch die biographische Erfahrung der Lehrerinnen und Lehrer. Die Kämpfe um eine angemessene Berücksichtigung der NS-Zeit im Geschichtsunterricht sind nicht mehr die ihren.

Gedenkstätten sind  natürlich nicht nur für Jugendliche da. Sie sind mit ihren allgemeinen Angeboten aus der kulturellen Vielstimmigkeit der kommunalen Kulturwelten kaum  wegzudenken. Die NS-Dokumentationsstelle hat in diesem Jahr zum Beispiel zwei Ausstellungen in Kooperation mit einer freien Bildungseinrichtung organisiert, bis zum heutigen Tag eine Exkursion, einen Filmabend, zwei Dichterlesungen, vier Stadtrunderkundungen und mehrere Buchpräsentationen. Ein  bunter Abend zu Chanukka liegt noch vor uns.

Die Kooperationspartner waren, neben dem eigenen Förderverein, die VHS, das Stadttheater, der Südbahnhof, die Bürgergemeinschaft Bismarckviertel, die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und die Geschichtswerkstatt.

Im nächsten Jahr wird die NS-Dokumentationsstelle ihre Rolle beim Gedenken der Stadt an einen Großangriff im Juni 1943 übernehmen, bei dem über 1000 Krefelderinnen und Krefelder ums Leben kamen.

Die lokalen Erinnerungsorte sind Trittsteine mit deren Hilfe der Sprung von den Erlebnisgenerationen in eine Kultur der Erinnerung geschafft werden kann. Wir wissen inzwischen, dass Primo Levi mit der Feststellung: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen“(*) recht gehabt hat. Auch nach 1945 hat es weiter Hass, Ausgrenzung und Völkermord gegeben.

Ich sehe einen Auftrag der lokalen Erinnerungsorte darin, exemplarisch die Mechanismen zu erklären, wie es geschehen ist, denn nur mit diesem Wissen  weiß man, wo man rechtzeitig eingreifen kann, wenn man Gewalt und Genozid verhindern will.

Seit dem Kosovo-Krieg 1999 ist selbst der Hinweis auf die Verantwortung für Auschwitz politisch diskreditiert. Trotzdem halte ich es weiterhin für ein notwendiges Ziel zu verhindern, dass „es“ wieder und wieder und wieder geschieht.

Vor einigen Jahren wäre ein „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ der allgemein akzeptierte Appell zum Ende meiner Ausführungen gewesen.

Heute ist es uns viel bewusster, dass es inzwischen alles wieder gegeben hat: Hass, Ausgrenzung, Völkermord. Heute muss man sich der bitteren Erkenntnis von Primo Levi anschließen:

Aber es wäre ein gutes Ziel, sich zu überlegen, was man heute, in der nächsten Woche und im nächsten Jahr dagegen tun kann.

(*) „Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten. 2. Aufl. München 1995,  S. 211

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