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Letzte Verfahren zum NS-Unrecht: Demjanjuk, Boere und andere

Expertengespräch in Münster zeigt: Auch in NRW wird diskutiert!

Verfasst am 02. Juni 2010

Ende November letzten Jahres sorgt die Eröffnung des Prozesses gegen Iwan „John“ Demanjuk im Landgericht II in München für ein großes Medieninteresse. Dem 89 Jahre alten gebürtigen Ukrainer wird „Beihilfe zum Mord“ in 27.900 Fällen vorgeworfen. Als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor soll er an der Ermordung von Juden beteiligt gewesen sein, so die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft. Von der auch international überwältigenden Medienresonanz berichtete Dr. Stefan Klemp am Mittwoch in Münster eindrucksvoll. Denn dieses Interesse am Umgang mit der NS-Täterschaft sei nicht immer so groß gewesen, weiß Heiner Lichtenstein zu berichten, der sich an einen Prozess in Münster erinnert, der ihm aufgrund der leeren Zuschauerplätze und des nicht vorhandenen Medieninteresses in Erinnerung geblieben ist. Über ihre Erfahrungen in Bezug auf die NS-Prozesse und deren öffentliche Wahrnehmung in Gegenwart und Vergangenheit diskutierten Dr. Stefan Klemp und Heiner Lichtenstein am Mittwochabend im Geschichtsort Villa ten Hompel mit Christoph Spieker vor einem zahlreich erschienen Publikum.

Dr. Stefan Klemp veröffentlichte 2005 mit „Nicht ermittelt – Polizeibataillone und die Nachkriegsjustiz“ eine umfassende Studie über die Verbrechen deutscher Ordnungspolizisten im Nationalsozialismus und erfolgten Ermittlungen gegen diese in der Bundesrepublik. Aktuell berät er unter anderem das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles bei der Verfolgung von NS-Tätern. In diesem Rahmen wird in Kürze sein neues Buch „KZ-Arzt Aribert Heim. Die Geschichte einer Fahndung“ veröffentlicht.

Heiner Lichtenstein gilt als ausgewiesener Experte: Mit „Himmlers grüne Helfer“ leistete er 1990 Pionierarbeit, als er die Verstrickung von Polizisten in nationalsozialistische Verbrechen erforschte. Seit Beginn seiner Tätigkeit als freier Redakteur beim WDR 1961 hat er etliche Verfahren gegen mutmaßliche NS-Verbrecher, auch den Eichmann-Prozess in Jerusalem, sowie die Berichterstattung über eben diese intensiv verfolgt und selbst mit geprägt. So wusste Lichtenstein aus Erfahrung zu berichten, dass das Bild der bei aktuellen Prozessen so riesigen Medienresonanz auf frühere Verhandlungen nicht zutrifft: „Gähnende Leere“ sei ihm entgegengetreten, als er in den frühen 1960er Jahren einen Gerichtssaal in Münster betrat, um dem Verfahren gegen SS-Männer beizuwohnen.

"Schlussstrichmentalität" und zögerliche juristische Aufarbeitung prägten die junge Bundesrepublik

Der 1932 geborene und in Köln wohnhafte Journalist hat als Zeitzeuge nicht nur die Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit miterlebt. Er erinnert sich noch gut an erlebte NS-Prozesse, die bezeichnend die deutsche „Schlussstrichmentalität“ widerspiegelten. Charakteristisch ist für Lichtenstein neben dieser Grundhaltung in den 1950er Jahren auch die Solidarität mit den Tätern unter breiten Teilen der Bevölkerung: Rechtsbeihilfe für Beschuldigte oder Netzwerke und Einrichtungen für NS-Täter sollten eben diese unterstützen. Der enorme Personalmangel bei den Ermittlungseinrichtungen, wie auch später bei der Zentralen Stelle in Ludwigsburg, und die hohe Anzahl an Staatsanwälten und Richtern mit einer braunen Vergangenheit hätten die Situation nur verschärft.
Dem mangelnden Interesse an den Prozessen entsprechend lassen sich auch kaum Berichte in alten Zeitungen finden. Auch dies ist ein wichtiges Indiz dafür, dass ein Großteil der Bevölkerung diesem Thema keine Aufmerksamkeit schenkte.

Neben den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozessen haben dann erstmals Verfahren wie der Ulmer Einsatzgruppenprozess oder der Auschwitzprozess in Frankfurt a. M. 13 und 18 Jahre nach Kriegsende eine breitere öffentliche Wirkung gehabt. Erst ab diesem Zeitpunkt an begann der Versuch einer systematischen Verfolgung von NS-Tätern in der BRD. Vorher tat sich vor allem durch den schrittweisen Rückzug der Alliierten eine Lücke auf: Unmittelbar nach der Befreiung leiteten die Siegermächte im Westen erste Verfahren ein, legten dann aber beispielsweise mit Spruchkammern nach und nach die Verantwortung in Deutsche Hände. Trotz dieser Fortschritte versagten jedoch Regierungsvertreter noch bis in die 60er Jahre Mitarbeitern der Zentralen Stelle den Besuch von Archiven in Osteuropa, da dort „gefälschtes Material untergeschoben würde“, berichtet Lichtenstein. Erst mit der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Zusammenbruch der SU, als bereits 50 Jahre vom Tatzeitpunkt an vergangen sind, habe sich diese Lage geändert.
Doch auch diese Entwicklungen sollten kritisch betrachtet werden: Zwar wurde nun die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg eingerichtet, doch zeugen die milden Urteile in diesen Verhandlungen noch von der breiten gesellschaftlichen Form der „Vergangenheitsbewältigung“, wenigen Hauptverantwortlichen wie Hitler, Himmler oder Heydrich die Hauptschuld zu geben und die eigenen Rollen bewusst klein zu halten. Darüber hinaus seien solche Prozesse, da sind sich Dr. Klemp und Lichtenstein einig, nur durch das hartnäckige Engagement von Einzelpersonen wie Fritz Bauer zustande gekommen.

Nur langsam wandelte sich das Gesellschaftsbild. International erhöhte sich beispielsweise durch den Eichmannprozess in Jerusalem oder die Enthüllung der NS-Täterschaft hoher Beamter, aber auch durch innere Entwicklungen, unter der Chiffre ´68 zusammengefasst, der Druck auf die Verantwortlichen in Justiz und Regierung, sodass die Verjährungsfrist 1965 verlängert wurde. Die so genannte „kalte Verjährung“ 1968 lief dieser Entwicklung allerdings entgegen. Sie bedeutete eine obligatorische Strafminderung für Beihilfe, sofern die „Gehilfen“ die niedrigen Beweggründe der Haupttäter nicht teilten. Damit wurden diese Verbrechen als Totschlag eingestuft, was zu diesem Zeitpunkt als verjährt galt. Selten wurde im Bundestag so intensiv und emotional wie zu diesen Anlässen diskutiert.
Im Zuge dieser Änderungen müssen NS-Tätern seitdem also niedrige Motive nachgewiesen werden. Das wiederum „war Grund für viele Freisprüche bei angeklagten Polizisten“, kritisiert Klemp. Darüber hinaus habe man in Justiz und Öffentlichkeit die Institutionen pauschalisiert. „Wenn schon SS-Angehörige oder Einsatzgruppen nicht hart bestraft werden, dann ginge das mit Polizisten schon gar nicht“, so eine weit verbreitete Überzeugung.
Auch andere Entwicklungen würden heute vermutlich als mindestens fragwürdig eingestuft werden. Als Gerichte nachwiesen, dass es faktisch keinen „Befehlsnotstand“ gegeben hat, hätte man sich mit der Hilfskonstruktion „subjektiv einen Befehlsnotstand empfunden zu haben“ geholfen.

Eines der größten Probleme auch heutiger Verfahren ist der Mangel an Zeugen: Es gibt nur wenige, die diese Zeit überlebten oder aber in der Lage waren, die Täter zu identifizieren und gegen sie auszusagen. Während sich diese geringe Zahl der Augenzeugen heute mit fortschreitender Zeit zunehmend dezimiert, hätte man in der jungen Bundesrepublik theoretisch noch größere Möglichkeiten der Zeugenbefragung gehabt. Doch wie ein schriftlicher Briefwechsel einer ermittelnden Staatsanwaltschaft mit einem Dortmunder Richter im Ghettoprozess gegen einen Dortmunder Polizeibataillon 1954 zeigt, hatte man aus Angst vor „möglichen negativen öffentlichen Reaktionen“ teilweise auch gar kein Interesse, Zeugen zu suchen.

Demanjuk, Boere und andere: Aktuell haben NS-Prozesse wieder Konjunktur

Neben der Verhandlung gegen Demanjuk zeigen die Prozesse gegen den SS-Mann Heinrich Boere, kürzlich in Aachen wegen dreifachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, oder das noch nicht rechtskräftige Urteil gegen Josef Scheunengraber, wegen Kriegsverbrechen in Italien zu lebenslanger Haft verurteilt, dass NS-Prozesse aktuell wieder Konjunktur haben. Gerade im Vergleich zu den Verfahren in der Vergangenheit scheinen diese aktuellen Fälle außerordentlich erfolgreich zu verlaufen. Folgt man den Einschätzungen der beiden Expterten, gibt es auch hier verschiedene Verfahrensfehler oder Möglichkeiten, diese bis zur Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten in die Länge zu ziehen, was durchaus kritisch betrachtet werden sollte. Darüber hinaus muss man sich mit Blick auf Demanjuk auch fragen, warum man denn jetzt mit einem so genannten „Hilfswilligen“ die Befehlsempfänger am „Ende der Befehlskette“ verurteilt, wenn vorher so viele Hauptverantwortliche ohne Strafe davongekommen oder durch das juristische Raster gefallen sind. Diese Freisprüche der ´50er, ´60er, aber auch ´70er Jahre gegen ehemalige SS-Ausbilder oder Kommandeure erscheinen im Licht der gegenwärtigen Prozesse noch zynischer als sie vermutlich von den meisten Opfern oder deren Angehörigen schon zur Zeit der Urteile eingeschätzt wurden.

Nach der Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart sind sich Christoph Spieker, Stefan Klemp und Heiner Lichtenstein mit Blick auf die Zukunft einig: Sollte Demanjuk verurteilt werden, müsste eine ganze Reihe von weiteren Prozessen gegen die vielen „Rädchen der Vernichtungsmaschinerie“, denen vorher keine direkte Täterschaft nachgewiesen wurde, folgen. Auch ist das gesamte Aktematerial für Wissenschaftler relevant, selbst wenn es zu so wenigen Verurteilungen kam. Denn dann könnten „wenigstens die Historiker, wenn schon nicht die ehemaligen Juristen, die Wahrheit ans Tageslicht bringen“, wie eine Stimme aus dem Publikum bemerkte. Darüber hinaus rücken durch diese Verhandlung auch die lange vergessenen Vernichtungslager Sobibor, Belzec und Treblinka wieder in den Fokus der Öffentlichkeit, in denen auch Bürger NRWs ermordet wurden.

Auch in den NS-Gedenkstätten in NRW wird die Verfolgung nationalsozialistischer Verbrecher aufgearbeitet

Neben dem Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster zeigt zum Beispiel auch das Kreismuseum Wewelsburg eine Ausstellung, die sich mit den Folgen des Nationalsozialismus auseinander setzt. Zum einen werden die so genannten Wewelsburg- Prozesse dokumentiert, zum anderen der Umgang mit der Vergangenheit im Dorf selber wie der Wiederaufbau der Wewelsburg zu der neuen Nutzung des ehemaligen Konzentrationslagergeländes und zu der Arbeit in der Gedenkstätte reflektiert.

Darüber hinaus zeugen neben den oben erwähnten weitere zahlreiche Publikationen von der durch Mitglieder des Arbeitskreises NS-Gedenkstätten in NRW geförderten Erforschung des justiziellen Umgangs mit NS-Verbrechen. So kann aus der Schriftenreihe des NS-Dokumentationszentrums Köln „Versteckte Vergangenheit. Über den Umgang mit der NS-Zeit in Köln“ von Horst Matzerath u. a. hier erwähnt werden. Das im Eigenverlag erschienene Begleitheft „Kriegsende und Nachkriegszeit in Oberhausen“ ist unter anderem über diese Homepage des Arbeitskreises unter „Literatur“ der Gedenkhalle Schloss Oberhausen bestellbar.

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