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Gewalt in der Region. Der Novemberpogrom 1938 in Rheinland und Westfalen.

Buchvorstellung und Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag der "Reichspogromnacht"

Verfasst am 04. November 2008

Vor genau 70 Jahren, am 9./10. November 1938, kam es in Deutschland zu jener Eskalation der Gewalt an der jüdischen Bevölkerung, die unter dem nationalsozialistisch geprägten Begriff "Reichskristallnacht" in die Geschichte eingehen sollte. Bei der Zerstörung, Plünderung und Brandstiftung jüdischer Einrichtungen handelte es sich um eine planvoll organisierte Gewaltorgie. Mit dem Novemberpogrom überschritten die Nationalsozialisten die letzte politische und moralische Schranke bei der Ausgrenzung und Stigmatisierung der jüdischen Bevölkerung und zeigten so offen ihr mörderisches Gewaltpotenzial.

Die Zahl der persönlich betroffenen Menschen, die als Opfer, mutige Helfer, Täter oder Zuschauer mit dem Ereignis verbunden sind, schrumpft täglich. Die gesellschaftliche Verantwortung für die Folgen der zwölfjährigen Nazi-Diktatur bleibt. Vor diesem Hintergrund hat der Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten in NRW eine Aufsatzsammlung unter dem Namen "Gewalt in der Region. Der Novemberpogrom 1938 in Rheinland und Westfalen" zusammengestellt. Hier werden die historischen Ereignisse auf lokal- und regionalgeschichtlicher Ebene sichtbar gemacht und ein Beitrag für die zukünftige Bildungs- und Erinnerungsarbeit der Mahn- und Gedenkstätten im Land geleistet. Die Broschüre stellt lokale Bezüge her, nennt die Namen beteiligter Personen, zeigt individuelle Gegebenheiten und Schicksale und gibt dem eigentlich Unfassbaren damit ein Gesicht. Auf 136 Seiten werden ganz unterschiedliche Details und Aspekte der Judenverfolgung dargestellt. Mit ihren jeweils eigenen Blickwinkeln auf die Ereignisse versuchen die Autoren die größeren Zusammenhänge begreiflich, nachvollziehbar und anschaulich zu machen. Am Beispiel von 15 Städten im Rheinland und in Westfalen erfährt der Leser von bisher unerforschten Aspekten der Vorgeschichte, Verläufe und Folgen der Ausschreitungen. Ihm liegen damit die neusten Erkenntnisse der aktuellen Gedenkstättenarbeit in NRW vor.

Die kurzen Aufsätze machen deutlich, dass die Ausschreitungen in der Pogromnacht keine unvorhersehbare spontane Gewaltäußerung einer kleinen Zahl nationalsozialistischer Akteure war. Vielmehr geht es auch um das Mitwirken von Behörden wie Polizei, Feuerwehr und kommunalen Verwaltungen sowie die Gleichgültigkeit der überwiegenden Anzahl der Bürger. Die Terroraktionen stellen damit den "moralischen Bankrott" eines Großteils der deutschen Bevölkerung unter Beweis.

So schildert Karola Fings in ihrem Beitrag beispielsweise das Novemberpogrom und die Reaktionen der Bevölkerung in Köln. Die kontinuierliche Ausgrenzung der Juden hatte bei vielen Bürgern schon zu einer Abstumpfung und Gleichgültigkeit geführt und ließ sie eine abwartende Zuschauerperspektive einnehmen. Fälle von Zivilcourage waren die Ausnahme. Der Novermberpogrom stellt somit nicht nur einen Wendepunkt für die jüdische Bevölkerung dar, sondern für die gesamte Gesellschaft.

Stefan Goch untersucht dagegen die bislang wenig beachtete Frage, ob auch Juden frühzeitig am Widerstand gegen das NS-Regime beteiligt waren. Im Fokus steht dabei der Widerstand jüdischer Schüler in der "Links-Opposition" in Gelsenkirchen.

Weitere Beiträge konzentrieren sich dagegen auf konkrete Verfolgungsaktionen und -schicksale. So beschreibt Kirsten John-Stucke beispielsweise die Verschleppung der Salzkottener Juden in den "Hexenkeller" der Wewelsburg und Ingrid Schupetta untersucht den Leidensweg der Krefelder Juden, die in das Konzentrationslager Dachau deportiert wurden.

Mit der Aufarbeitung der Reichspogromnacht nach dem Krieg beschäftigen sich die Texte von Monika Marner/Claudia Arndt und Winfried Casteel. Anhand von Prozessakten und Presseberichten zeigen sie, wie die Aufarbeitung jener düsteren Tage im November 1938 die Nachkriegsgesellschaft bewegte. Das Interesse war groß, die Strafmaße verhältnismäßig niedrig.

Im letzten Essay des Bandes beleuchtet Ulrike Schrader schließlich schlaglichtartig die einzelnen Etappen der deutschen Erinnerungskultur, indem sie die Entstehungsgeschichte ausgewählter Gedenkzeichen in Wuppertal rekapituliert.

Offiziell vorgestellt wurde die neue Publikation am Sonntag, 9. November, im Anschluss an eine Gedenkveranstaltung des nordrhein-westfälischen Landtags in Düsseldorf.

Seit Montag, 10. November ist das Buch dank der Förderung durch die Landeszentrale für politische Bildung NRW in allen Gedenkstätten des Arbeitskreises zu einem geringen Verkaufspreis erhältlich.

Auch in diesem Jahr fanden zum Jahrestag der "Reichspogromnacht" wieder in zahlreichen Städten in NRW wie z.B. in Dorsten, Drensteinfurt, Düsseldorf, Essen, Herford, Köln, Münster, Rosbach, Siegen und Wuppertal Gedenkveranstaltungen statt. Schon am Mittwoch, 5. November beschäftigten sich in Münster Historiker auf einer öffentlichen Tagung des Geschichtsorts Villa ten Hompel mit neuen Forschungs- und Erinnerungsperspektiven zum Thema "70 Jahre nach dem Pogrom vom 9. November im Münsterland". Neben der Neuerscheinung des Arbeitskreises präsentiert auch die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf eine neue Buchpublikation: "Novemberpogrom 1938 in Düsseldorf" lautet der Titel, der im Rahmen eines Zeitzeugengespräches am Donnerstag, 6. November vorgestellt wurde. Genau wie in Düsseldorf hatte auch die Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal anlässlich des Jahrestags mit ehemaligen Wuppertaler Jüdinnen und Juden mehrere Zeitzeugen zu einem Besuchsprogramm in die Stadt ihrer Kindheit eingeladen. Die Gäste kamen aus den USA, Israel, Frankreich und Deutschland. Sie nahmen am 9. November an einer Gedenkveranstaltung in der Alten Synagoge teil und trafen dabei auf Schülerinnen und Schüler einer Wuppertaler Hauptschule.

Zum weiteren Programm der Gedenkstätten gehören darüber hinaus verschiedene Sonderausstellungen. In der NS-Dokumentationsstelle Villa Merländer in Krefeld ist noch bis Ende November die Schau "Pogrom in Krefeld - nach 70 Jahren" zu sehen. Eine weitere Ausstellung eröffnete das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln am 10. November unter dem Titel "Jüdisches Leben in Köln 1918 bis 1945“". Zudem zeigt der Landtag in Düsseldorf bis einschließlich Sonntag, 23. November im Foyer der Eingangshalle die Ausstellung "1938 - Zerstörte deutsche Synagogen". Hier erinnert der deutsche Architekturmaler und Ernst Barlach-Preisträger Alexander Dettmar mit seinen Bildern an die in der Pogromnacht vernichtete jüdische Baukultur.

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