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Europäische Perspektiven der Erinnerungskultur und Gedenkstättenarbeit – ein deutsch-polnischer Austausch

Tagung in Gelsenkirchen am 2. und 3. Juni 2011 führte Experten aus Deutschland und Polen zusammen

Verfasst am 08. Juli 2011

Die Tagung stellte Grundlinien geschichtskultureller Entwicklung im Vergleich vor; zudem präsentierte sie Praxisprobleme der Gedenkstättenpädagogik und der Profilierung von Gedenkstätten in Polen. Einleitend stellte Guido HITZE (Landeszentrale für politische Bildung NRW) die Chance heraus, eine komplexe europäische Entwicklung 1914 bis 1990 insgesamt thematisieren zu können, ohne sogleich eine neue „große Erzählung“ zu produzieren. Alfons KENKMANN, Sprecher des Arbeitskreises der NS-Gedenkstätten und -Erinnerungsorte in NRW, resümierte die allmähliche „Verfeinerung“ pädagogischer und darstellerischer Ansätze von den „brachialpädagogischen“ Zügen der unmittelbaren Nachkriegszeit zur Entstehung und arbeitsteiligen Professionalisierung von Lernorten. Über die Gedenkstättenentwicklung in Polen informierte Marcin ZABORSKI, Politologe von der Universität Warschau. Er unterstrich die grundlegende Zweiteilung zwischen dem offiziellen Gedächtnis der Volksrepublik – mit dem Akzent auf Kampf, Martyrium und Sieg – und anderen „privaten“ Erinnerungen, wies aber auch auf Veränderungen der dominanten Narrative schon vor 1989 hin.

Die Grundtrends beider Geschichtskulturen zusammenzufassen, unternahmen anschließend Constantin Goschler (Ruhr-Universität Bochum) und Zofia Wóycicka (Haus der europäischen Geschichte Brüssel). Goschlers These lautete: die bundesrepublikanische Gesellschaft hat sich von frühen Opferkonkurrenzen (zwischen Kriegsopfern und Völkermord-Opfern) über eine identifikatorische Phase des stellvertretenden Opfergedenkens zu einer allmählichen gelassenen Aussöhnung mit der Kriegsgeneration und ihren Erfahrungen durchgerungen. Das ergänzende Porträt der polnischen Situation konzentrierte sich auf die Erfahrungen seit den 1980er-Jahren. Zofia Wóycickaarbeitete heraus, dass es einen großen Meinungsumschwung und Wissenszuwachs in der polnischen Gesellschaft gegeben habe, die insbesondere mittels Kunstprojekten ihre Perspektiven erweitert habe. Gerade das jüdische Leben werde heute in ungleich größerem Maße wahrgenommen als noch vor 20 Jahren.

Das „Lernen in Gedenkstätten“ unterzog Bert PAMPEL (Stiftung Sächsische Gedenkstätten) einer kritischen Befragung. Dass den Besucher/innen Erlebnis meist wichtiger ist als Information, dass mehr Bestätigung als Verunsicherung und Veränderung zu verzeichnen ist, weist pädagogische Allmachtsträume in enge Schranken. Die Differenzierung vorhandenen Wissens, die Veranschaulichung des Gewussten scheinen nicht nur in den NS-Gedenkstätten, sondern auch in denen für die Opfer des Kommunismus und Stalinismus die wirklichen Potenzen der Lernorte darzustellen. Pädagogische Erfahrungen auf polnischer Seite, vorgestellt von Wiesław WYSOK (Museum/Gedenkstätte Majdanek-Lublin), machten auf die Frage aufmerksam, wieviel die meist jugendlichen Besucher/innen eigentlich von den historischen und geografischen Differenzen in der Geschichtskultur wissen – und wissen sollten. Er plädierte für multiperspektivische Begegnungen, in denen sich unterschiedliche Gedenktraditionen und -bedürfnisse ausdrücken können. Aus der Praxis deutsch-polnischer Seminare berichtete Zbigniew Wilkiewicz (Gesamteuropäisches Studienwerk Vlotho). Die gemeinsame Arbeit an der Dekonstruktion historischer Mythen sei in solchen Kontexten möglich, wenngleich Geschichtswissen und ein „Kanon“ bei den polnischen Teilnehmenden ungleich präsenter sei.

Weiter in die Empirie und pädagogische Praxis der Gedenkstätten gingen die Beiträge des zweiten Veranstaltungstages. Aus der Arbeit ihrer Institution stellte Astrid WOLTERS (Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf) einige Ansätze vor: Projekttage und -wochen bzw. Ferienworkshops bieten Möglichkeiten anspruchsvoller Arbeit; als Produkte solcher Arbeit kommen Theateraufführungen, Skulpturen und mehr in Betracht. Weiter verwies sie auf die intergenerationellen Begegnungen im Rahmen der Besuchsprogramme für ehemalige Zwangsarbeiter/innen sowie auf die Kooperation mit Düsseldorfer Unternehmen, die in den Rahmen ihrer Ausbildungstätigkeit Studienreisen nach Auschwitz integrieren.

Drei Gedenkstätten und Museen in Polen wurden von deren Mitarbeiter/innen in Entstehungsgeschichte und Konzept präsentiert. „Der pädagogische Umgang mit der Leere des Ortes“ war der Beitrag von Ewa KOPER (Gedenkstätte Bełżec) überschrieben, in dem sie neben der Bedeutung des Ortes Bełżecdie Vorgeschichte und Entstehung der Gedenkstätte umriss. Andrzej Kacorzyk und Ewa Matlak (Museum und Gedenkstätte Auschwitz) referierten über neuere pädagogische Strategien in ihrer Institution. Dazu zählten u. a ein E-Learning-Projekt zum Holocaust mit einer guten altersübergreifenden Resonanz, Projekte für Strafgefangene und Menschen mit geistiger Behinderung. Außerdem stellte Daniel LOGEMANN (Museum des II. Weltkriegs, Danzig) seine noch in der Entstehung befindliche Einrichtung ohne „historischen Ort“ vor: Dieses Haus wird ab 2014 versuchen, seinen Gästen auch aus den Nachbarländern eine multiperspektivische Sicht auf den Weltkrieg zu bieten.

Über den Umgang mit Biographien in deutschen und besonders in nordrhein-westfälischen Gedenkstätten referierten Heidi BEHRENS und Norbert REICHLING (Bildungswerk der Humanistischen Union NRW); sie verknüpften diese Frage mit den Entwicklungsschritten der Einrichtungen hin zu multiperspektivischen Ansätzen. Annette Eberle (Universität Leipzig) unternahm es, das schwierige Verhältnis zwischen historisch-politischem Lernen und Menschenrechtspädagogik zu analysieren. Auf der Basis einer Befragung von Bildungseinrichtungen und Gedenkstätten plädierte sie für einen klaren Vorrang der ortsbezogenen geschichtlichen Themen in den Gedenkorten.

„Europäische Perspektiven und demokratiepädagogische Schlussfolgerungen“ war das Thema des abschließenden Podiums betitelt. Die Überkomplexität aller Bemühungen, europäische Gesamtbilder zu entwerfen, die These Jan PISKORSKIs, dass (auch) in Westeuropa eine Renationalisierung zu beobachten sei, und die Frage, ob „Europäisierung“ eigentlich eine Norm oder ein bereits ablaufender Prozess sei, standen im Zentrum. Claudia KRAFT verwies auf die Modernitätsunterschiede auch im organisierten Europa, um für Geduld und Gelassenheit zu werben. Und in kritischem Abstand zu den Universalisierungsvorschlägen historischer „Lektionen“ beharrte Wolf KAISER auf dem Eigenrecht eines historischen Lernens.

Die Veranstaltungdemonstrierte, dass genug zu tun ist für eine gemeinsame Reflexion der nicht immer sachgeprägten Themenkonjunkturen und der pädagogischen Praxis an den Gedenkorten, die in beiden Ländern offener, vielfältiger und moderner ist als öffentliche Vermutungen über das dortige Lerngeschehen manchmal suggerieren.

Veranstalter:
Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten und -Erinnerungsorte in Nordrhein-Westfalen (Münster)
Bildungswerk der Humanistischen Union NRW (Essen)
Landeszentrale für politische Bildung NRW (Düsseldorf)
Museum und Gedenkstätte Lublin-Majdanek

Verfasser: Norbert Reichling, Bildungswerk der Humanistischen Union NRW

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