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Erinnerungskulturelle Entdeckungen und historisch-politische Einschätzungen

Zum Abschluss ihrer Reise führte Prof. Moshe Zimmermann die NRW-Delegation zu Orten in Tel Aviv, an denen das komplizierte Verhältnis von Erinnerung an die Vergangenheit und gegenwärtige Politik besonders deutlich wird. Prof. Dan Diner ordnete im Abendgespräch aktuelle politische Entwicklungen beeindruckend pointiert in den historischen Zusammenhang ein.

Verfasst am 05. Dezember 2015

Zum Abschluss der Delegationsreise des Arbeitskreises mit der NRW-Landeszentrale für politische Bildung und der Staatskanzlei stand mit dem „Nahum Goldman Museum of the Jewish Diaspora“ eine etwas andere Einrichtung auf dem Programm. Das Museum auf dem Campus der Universität Tel Aviv nimmt die Geschichte jüdischer Gemeinden auf der ganzen Welt seit der babylonischen Zeit bis in die Gegenwart in den Blick. Was jüdisch ist und wie jüdische Kultur sich über Jahrtausende behaupten konnte, ist die Leitfrage der Einrichtung. Weil die Dauerausstellung aktuell überarbeitet wird, darf man gespannt sein, wie jüdische Geschichte in dem staatlichen Museum auch in Zukunft erzählt werden wird.

Einen besonders beeindruckenden Programmpunkt bildete der erinnerungskulturelle Stadtrundgang mit Prof. Dr. Moshe Zimmermann: Anhand ausgewählter Stationen hat er im Stadtbild Tel Avivs Orte dekonstruiert, die mit politischen oder anders instrumentalisierten Erinnerungen besetzt sind.

Den Anfang macht das Museum für die jüdische, paramilitärische Widerstandsgruppe Etzel, außerhalb Israels bekannt als Irgun, am Strand zwischen Tel Aviv und Jaffa. Die paramilitärische, nationalistische Untergrundorganisation versuchte vor der jüdischen Staatsgründung um Wladimir Jabotinsky die Gründung eines zionistischen, revisionistischen Staates auch mit Terroranschlägen durchzusetzen. Der Ort dient dem Gedächtnis an die Gründer der Bewegung und ihrer Opfer, also die beim Kampf um Jaffa getöteten Irgun-Mitglieder. Eine komplizierte Erinnerung, wie Moshe Zimmermann sie einordnete: Während nationalistische Parteien sie auch heute noch als Patrioten bezeichnen, sehen andere sie als radikale, gar faschistische Gruppe. Dass die Sehnsucht nach der Gründung eines eigenen jüdischen Staates dabei in den Verfolgungserfahrungen in Europa begründet lag, macht auch hier die tiefen Verflechtungen deutscher und israelischer Geschichte deutlich.

Weitere Stationen bildeten zwei noch existierende deutsche Templerkolonien, die von preußischen Protestanden und pietistischen Gruppen aus Württemberg vor rund 150 Jahren gegründet wurden. Nicht wenige der Siedler waren in den 1930er Jahren Anhänger der Nationalsozialisten, wusste der israelische Historiker in der für ihn ungewohnte Funktion als Stadtführer zu berichten. Eine der Kolonien liegt direkt gegenüber vom Verteidigungsministerium und bildet mit seinen kleinen Häusern im schwäbischen Stil einen bemerkenswerten Kontrast zu den modernen Hochhäusern der Umgebung. Für weitere Neubauten wurden die alten Häuschen vor wenigen Jahren umständlich um 20 Meter verschoben. Heute hat sich das Viertel zum Ausgehzentrum der jungen Tel Aviver entwickelt.

Auch der Rothschild-Boulevard, eine der zentralen und sichtbar von Bauhaus-Architekten geprägten Straßen Tel Avivs, war eine Station. Hier befindet sich die „Hall of Independence“, der Ort, an dem am 14.5.1948 die israelische Unabhängigkeit von David Ben-Gurion erklärt wurde. Abschließend hielt die Gruppe an der Stelle, an der Yitzhak Rabin am 4.11.1995 nach seiner Teilnahme an einer Friedenskundgebung ermordet wurde. Ein Denkmal mit 16 großen Steinen stellt im Boden symbolisch die Aufwerfungen eines Erdbebens dar, als welches die Ermordung des Friedensnobelpreisträgers von der israelischen Gesellschaft wahrgenommen wurde. An einer Wand wurden Graffiti, die von Trauernden in den Tagen nach dem Attentat gemalt wurden, konserviert. Auf dem angrenzenden Rathausvorplatz, heute nach Rabin benannt, findet jedes Jahr eine Kundgebung in Erinnerung an den ehemaligen Präsidenten statt. Auch hier lässt sich an rückläufigen Teilnehmendenzahlen die gegenwärtige politische Lage ablesen, stellte Prof. Zimmermann fest.

Einen mehr als würdigen Abschluss fand die gesamte Woche bei einem Essen mit Prof. Dr. Dan Diner. Der Historiker lehrt und forscht aktuell an der Hebrew University in Tel Aviv, hatte aber auch schon mehrere Lehrstühle in Deutschland inne. Pointiert und zugespitzt beantwortete er die Fragen der Gedenkstättenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter zur gegenwärtigen Situation im Nahen Osten. Dabei machte er immer deutlich, dass die Lage ohne Rücksicht auf die historischen Entwicklungen in Europa und Asien seit dem 19. Jahrhundert nicht zu verstehen ist. Wenn man die europäische Einigung als deutsche Einigung versteht, könne man das deutsch-israelische Verhältnis anders einordnen. Auch zur Frage, wie man „Menschenrechtserziehung“ in NS-Gedenkstätten mit den universalen Folgen des „Zivilisationsbruchs“ durch die NS-Verbrechen zusammenbringen könne, bezog er Stellung. Beides, die erinnerungskulturelle Entdeckungstour mit Prof. Moshe Zimmermann und die historisch-politischen Einschätzungen Prof. Dan Diners hinterließen tiefe Eindrücke, die die Reiseteilnehmenden auch zurück zuhause in NRW bei ihrer Gedenkstättenarbeit beschäftigen werden.

Bericht und Foto von Philipp Erdmann

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