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Ein einzigartiger Ort am unteren Niederrhein: Portrait der ehemaligen Synagoge Issum

Etwas versteckt in einem Hinterhof im Zentrum der 12.000-Einwohnergemeinde Issum liegt die einzige erhaltene Dorfsynagoge am unteren Niederrhein. In zwei schmalen, weiß getünchten Gebäuden befinden sich hier Synagoge, Schulhaus und eine Mikwe, das Bad zur rituellen Reinigung. Auch dieses Gebäudeensemble ist unter den ehemaligen Landsynagogen in der Region einzigartig.

Seit inzwischen 34 Jahren ermöglicht der Arbeitskreis Jüdisches Bethaus Issum den Besuch des historischen Ortes und der Ausstellung im ehemaligen Schulhaus. Die Ehrenamtlichen sind seit 1986 aktiv – unter anderem in der Archivrecherche und Aufbereitung von Dokumente aus dem Gemeinde- und -Kreisarchiv, der Betreuung des Ortes und Begleitung von Besucher*innen und der Durchführung von Bildungsangeboten.

Verfasst am 18. Juli 2024

Geschichte einer jüdischen Landgemeinde

Die jüdische Gemeinde kaufte 1855 das Grundstück an der Kapellener Straße und konnte 1865 die aus einer Scheune durch Umbau errichtete Synagoge einweihen, ein Gebetsraum ist bereits 1791 dokumentiert. Zur Zeit ihrer aktiven Nutzung waren Synagoge und Gemeinde im regionalen Vergleich klein – so war die Synagoge in wenige Kilometer entfernten Geldern ungefähr dreimal so groß. Die Issumer Synagoge wurde jedoch als einzige in der Region während der Novemberpogrome 1938 nicht zerstört. So lässt sich hier heute ein Eindruck des Alltags und des religiösen Lebens einer jüdischen Landgemeinde im 19. Jahrhundert gewinnen.

Urbanisierung und Umbruch

In der Mitte des 19. Jahrhunderts befand sich die jüdische Gemeinde Issums in Umbruch: Zunächst wuchs die Gemeinde stark an, und hatte in den 1860er Jahren mit 50 Personen ihre größte Zahl an Mitgliedern. Rechtliche Schritte, die die Ungleichberechtigung von Jüd*innen im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft abbauten, trugen zu sozialem Aufstieg mancher Gemeindemitglieder bei.

Innerhalb nur weniger Jahrzehnte änderte sich durch die Industrialisierung, die Änderungen des Arbeitslebens und des Wegzug in größere Städte die Situation der Gemeinde drastisch. Zahlreiche Issumer Jüd*innen verließen den Ort, gerade erst aufgebaute Einrichtungen mussten aufgegeben werden. Deutlich wird dies am Beispiel der Schule. 1869 stellte die Gemeinde einen Lehrer ein. Nur zehn Jahre später musste die Schule offiziell schließen, da zu viele Familien weggezogen waren. Lehrer Jacob Meyersohn führte den Unterricht privat weiter.

Die jüdischen Issumer*innen müssen fester Bestandteil der Dorfgemeinschaft gewesen sein. Gleichzeitig sind bereits im frühen 19. Jahrhundert antisemitische Ausschreitungen und Vorschriften in der Region dokumentiert, die sich mit der Zeit weiter fortschrieben.

Ab Ende des 19. Jahrhunderts verkleinerte sich die jüdische Gemeinde Issums zusehends: Viele Mitglieder zogen in größere Städte. Schon um 1900 ließ sich der für einen G’ttesdienst erforderliche minjan – bestehend aus 10, in der Regel männlichen, Religionsmitgliedern – nicht mehr zusammenfinden. Die Synagoge wurde an die jüdische Gemeinde Geldern angegliedert und fortan kaum noch liturgisch genutzt.

Nationalsozialismus und Shoah in Issum

1933 lebten noch knapp 21 jüdische Issumer*innen im Dorf. Von der antisemitischen Politik waren sie unmittelbar betroffen.

Der antisemitische Boykott 1933 richtete sich gegen Geschäfte in Issum, während der Novemberpogrome 1938 wurde ein weiteres Geschäft zerstört und männliche Juden in KZ verschleppt.

In einem 1984 verfassten Bericht schildert Margrit Stern, geboren 1930 als Margrit Cohen, eindrücklich, wie sich alltägliche Ausgrenzung, Hass und Gewalt auf die als jüdisch verfolgten Issumer*innen auswirkten. Zum Zeitpunkt der Novemberpogrome war sie das einzige jüdische Kind in Issum. Für die Aktiven im Arbeitskreis Jüdisches Bethaus Issum ist der Bericht heute eine der zentralen Quellen, um die NS-Verfolgungspolitik vor Ort nachzuvollziehen. Er bietet auch Aufschluss über die Lebenswege geflüchteter Issumer*innen wie der Familie Cohen, der es gelang, nach Argentinien zu flüchten.

Das kaum noch als solches genutzte Synagogengebäude wurde 1935 an einen Issumer Uhrmacher verkauft und wurde nur noch als Abstellkammer genutzt. Dieser Umstand und die versteckte Lage in einem Hinterhof erklären, weshalb die Synagoge Issum während der Novemberpogrome 1938 nicht geplündert und zerstört wurde.

Mehreren antisemitisch verfolgten Issumer*innen gelang die Flucht, manche von ihnen wurden nach der deutschen Besetzung aus dem Exil verschleppt. Nach Fluchtversuchen, mehreren Deportationen und der Zwangszuweisung in Kinderheime zu Ghettohäusern lebten Ende März 1943 keine jüdischen Menschen mehr in Issum.

Erhalt des Gebäudes, Restaurierung und aktiver ehrenamtlicher Einsatz

Ab 1987 wurde das Gebäude durch die Gemeinde Issum gekauft und restauriert. Der Raum konnte somit nur in Teilen rekonstruiert werden, denn vom ursprünglichen Innenraum waren keine Fotografien vorhanden und nur wenige Elemente sind aus der Zeit als Synagoge erhalten geblieben, darunter die Empore, die Fensterrahmen und die Lincrustatapete. Mehrere rituelle Elemente ergänzen den Synagogenraum seit seiner Öffnung für die Öffentlichkeit 1990, darunter eine Menorah (ein siebenarmiger Leuchter) und eine unvollständige Thorarolle, die an den Arbeitskreis Jüdisches Bethaus Issum gespendet wurde. Die Konservierungsarbeiten in der Mikwe hatten zum Ziel, sie im vorgefundenen Zustand zu erhalten.

Seit 2023 ist die Ehemalige Synagoge Issum eines von 30 Mitgliedshäusern im Arbeitskreis NS-Gedenkstätten und -Erinnerungsorte in NRW. Christine und Werner Brall, Leiter des Arbeitskreises Jüdisches Bethaus Issum, sehen das als Möglichkeit, Austausch und Zusammenarbeit zu vertiefen. Schließlich sind in der NRW-weiten Vernetzung weitere ehemalige Landsynagogen in Drensteinfurt, Selm-Bork und Petershagen und das Humberg-Haus in Dingden vertreten, denen der Issumer Arbeitskreis sehr verbunden ist.

In Issum sind die Ehrenamtlichen auch über die ehemalige Landsynagoge hinaus aktiv. So initiierte der Arbeitskreis Jüdisches Bethaus 2010 die Verlegung von 10 „Stolpersteinen“ für ermordete Issumer*innen vor deren letzten Wohnorten. Die Gedenkveranstaltung ermöglichte, den Kontakt zu Überlebenden zu intensivieren: Unter den Gäst*innen war auch Margrit Stern mit ihrer Familie. Die als Kind geflüchtete und inzwischen verstorbene Margrit Stern war zu diesem Zeitpunkt die einzige Überlebende aus Issum.

Besuch der ehemaligen Synagoge Issum

Besucher*innen können im ehemaligen Synagogenraum einen Eindruck des religiösen Lebens einer kleinen jüdischen Gemeinde im 19. Jahrhundert gewinnen. Hier befinden sich auch Tafeln zum Gedenken an 14 Issumer*innen, die in der Shoah ermordet wurden oder auf der Flucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung starben. Im Untergeschoss des Schulhauses kann die ehemalige Mikwe besichtigt werden.

In der Ausstellung im ehemaligen Schulhaus können Besucher*innen anhand von Familienfotos, Dokumentationen des jüdischen Friedhofs, eines gedeckten Sabbattisches einen Eindruck des Alltagslebens und religiöser Praktiken der jüdischen Gemeinde erhalten.

Der historische Gebäudekomplex und die Ausstellung können jeden ersten Sonntag im Monat sowie in Absprache an weiteren Terminen besichtigt werden. Das Team des Arbeitskreises Jüdisches Bethaus Issum bietet Führungen, zum Beispiel für Schulklassen und andere Interssierte, an. Den Kontakt und weitere Informationen für Besucher*innen finden Sie hier.

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