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Die Macht der Gerüchte

Zur strafrechtlichen und historischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen am Beispiel der "toten Kinder von Menden".

Verfasst am 04. November 2007

Es liest sich wie ein Krimi: 200 Leichen sollen bei Nacht und Nebel auf dem Mendener Friedhof verscharrt worden sein. So besagen es zumindest die Gerüchte, die seit der Einweihung eines Glockenturms und einer Gedenktafel durch den Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge im Jahr 2000 auf dem Friedhof von Menden laut wurden. Wer kümmert sich um derartige schwerwiegende Gerüchte? Wer prüft sie auf ihren Wahrheitsgehalt und geht ihren Hinweisen nach? Und welche Mittel stehen zur Überprüfung solcher Gerüchte und der Aufarbeitung von NS-Verbrechen zur Verfügung?

Die Gerüchte in Menden wurden immer lauter, sodass 2006 einige Gräber exhumiert und die Staatsanwaltschaft Dortmund und die Abteilung für nationalsozialistische Kriminaldelikte des Landeskriminalamtes NRW eingeschaltet wurden. Ähnliche Verselbständigungen von Gerüchten sind auch an anderen Orten bekannt. Als Beispiel ließe sich die Villa ten Hompel in Münster nennen, die unter anderem widersächlichen Aussagen um die historische Vergangenheit des Hauses ihr Entstehen zu verdanken hat. Dort hatte sich ein Gerücht um angebliche Folterzellen der Gestapo hartnäckig gehalten. Es konnte erst durch den 1999 eingesetzten Wissenschaftlerstab widerlegt werden, der die spannende und bedeutende Geschichte des Hauses sowie der Institution der Ordnungspolizei aufarbeitete und in einer seiner beiden Dauerausstellung der Öffentlichkeit zugänglich machte.

Aufgrund der gesetzlichen Regelung der Verjährung können aus der Zeit des nationalsozialistischen Deutschlands nur noch Mord- und Völkermorddelikte strafrechtlich verfolgt werden. Im Fall der Villa ten Hompel lag dieser Tatverdacht nicht vor. In Menden dagegen schon. Zunächst wurden auf Initiative der deutschen Kriegsgräberfürsorge einige Gräber des örtlichen Friedhofes ausgehoben. Als dort Kinderleichen gefunden wurden, die in einem Fall auf einen Wasserkopf und in zwei Fällen auf Mongolismus hinwiesen, schienen sich die Gerüchte um systematische Ermordungen zu bewahrheiten und mit Verdacht auf Euthanasie wurden die Staatsanwaltschaft und die Polizei eingeschaltet. Das Einsatzkommando "Wimbern-Barge" (EK "WiBa"), das mit der Aufklärung des Falles der "toten Kinder von Menden" beauftragt war, musste sich zunächst die Geschichte der seit 1941 erbauten Sonder- und Ausweichkrankenhäuser aneignen, bevor das Ausweichkrankenhaus Wimbern, aus welchem angeblich die Kinderleichen stammen sollten, genauer beleuchtet wurde und Zeugen, Familienangehörige ehemaliger Patienten und ehemalige Mitarbeiter ausgemacht und vernommen werden konnten. Außerdem wurde die Exhumierung der Leichen nun systematischer betrieben. Für die Ermittlungen konnte die Ermittlungskommission "Wimberg-Barge" auf die Akten des ehemaligen Krankenhauses und auf Luftbilder der Aufklärungsflüge der Alliierten zurückgreifen. Zur Vernehmung der 138 Zeugen und zur Abklärung von 529 Personen, meist Patienten, stand außerdem ein großer Mitarbeiterstab zur Verfügung. Auch auf gerichtsmedizinische Hilfe aus Düsseldorf konnten die Ermittler zählen.

Nach monatelangen Untersuchungen, Recherchen, Vernehmungen und Auswertungen der EK "WiBa" konnte Rainer Stoye (Polizist und Historiker) am 24.10.2007 die vorläufigen Ergebnisse der noch laufenden Ermittlungen in der Villa ten Hompel präsentieren. Das schreckliche Gerücht, dass in Menden "bei Nacht und Nebel 200 Leichen verscharrt" worden wären bewahrheitete sich nur teilweise. Es handelte sich tatsächlich um knapp 200 Leichen. Sie stammten aus dem Ausweichkrankenhaus Wimberg und wurden aufgrund der Fliegerbeschüsse gegen Ende des Krieges hauptsächlich nachts transportiert und begraben. Auch lagen teils mehrere Leichen in einer Grabstätte, was sich aber durch finanzielle Mängel erklärte und mit dem Einverständnis der Angehörigen erfolgt war. Viele der Mitarbeiter des Ausweichkrankenhauses Wimbern waren zwar Mitglieder in braunen Ärzte- und Schwesternorganisationen - und in anderen Sonder- und Ausweichkrankenhäusern haben auch systematische Tötungen stattgefunden - doch die in Wimbern durchgeführten Untersuchungen des EK "WiBa" "erhärten den Verdacht der systematischen Tötung nicht" (Gerichtsmedizin Düsseldorf). Im Vergleich zu ausgewiesenen Euthanasiestätten, wie z.B. Hadamar, waren sowohl die Todeszahlen, als auch die Anzahl von Behinderten unter diesen Toten "eher niedrig" (Gerichtsmedizin Düsseldorf). Auch die Aussagen der Hinterbliebenen stützen diese Ergebnisse.

Wie reagieren nun wohl die Polizisten auf ihre eigenen Ergebnisse. Sind sie enttäuscht oder erleichtert, nachdem sie in mühsamster Detailarbeit Licht in die Gerüchteküche bringen und einen Mord- oder Völkermordtatbestand ausschließen konnten? Rainer Stoye bemerkt "auch dies ist ein Ergebnis" - ein Ergebnis sowohl für die Staatsanwaltschaft, die nun keine Anzeige erheben muss, als auch für die Historiker, denen nun neue Erkenntnisse und detaillierte Daten über das Ausweichkrankenhaus Wimbern vorliegen. Sie können aus den umfassenden Ergebnissen der polizeilichen Untersuchungen schöpfen und diese in den größeren historischen Kontext einordnen. Auch helfen die polizeilichen Erkenntnisse den Historikern für die weitere Untersuchung von für die Staatsanwaltschaft uninteressanten, da verjährten Fällen, wie z.B. die Zwangsarbeit im Ausweichkrankenhaus, und verwaltungs- und sozialgeschichtliche Aspekte. So profitieren die polizeilichen Ermittler von der Vorarbeit der Historiker, die bereits einen historischen Rahmen um die Ausweichkrankenhäuser der NS-Zeit geschaffen hatten. Andererseits profitieren die Historiker von der detaillierten Aufklärung der Polizei, der sehr viel umfangreichere personelle, finanzielle und technische Ressourcen zur Verfügung stehen und die aufgrund der Brisanz auch auf sonst geschützte Akten zugreifen können. Insgesamt zeigt sich an diesem Fall um die toten Kinder von Menden ein Musterstück für die gegenseitige Hilfe im Zusammenwirken von Polizei und Historikern. Die gegenseitige Unterstützung kommt beiden Bereichen zugute und fördert den Prozess der Aufarbeitung der deutschen NS-Vergangenheit und NS-Verbrechen entscheidend.

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