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Die DDR im Blick - in NRW-Gedenkprojekten und Publikationen

Neuer Sammelband bietet einen kaum gekannten Einblick in die Realität der SED-Diktatur

Verfasst am 18. April 2009

"Die DDR im Blick. Ein zeithistorisches Lesebuch" lautet der Titel eines Sammelbandes, den Susanne Muhle, frühere Mitarbeiterin des Geschichtsorts Villa ten Hompel, Ende letzten Jahres veröffentlicht hat. Gemeinsam mit zwei weiteren Stipendiatinnen der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Hedwig Richter und Juliane Schütterle, präsentiert sie mehr als 20 prägnante "Geschichten" aus den Forschungswerkstätten junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Die Beiträge laden ein zu einem vielfältigen und anschaulichen Streifzug durch die DDR-Vergangenheit. Sie berichten über eine Lebenswelt, die vom totalen Machtanspruch des Regimes durchdrungen war, von Begegnungen zwischen Ost und West, aber auch von Ausbruchsversuchen aus dem realsozialistischen Alltag. So spiegeln die Texte aktuelle Debatten in der DDR-Forschung wider und zeugen von der Doppelbödigkeit und Komplexität der DDR-Geschichte, hinter deren nostalgischer Verklärung oft die Verdrängung von Verantwortung steht. Die Beiträge sollen zum Weiterlesen anregen, zur Diskussion über die jüngste deutsche Vergangenheit anstiften und die Erinnerung an die SED-Diktatur wach halten.

Über einen langen Zeitraum hat sich Susanne Muhle im Team der Villa ten Hompel engagiert. Während ihrer Tätigkeit als freie wissenschaftliche Mitarbeiterin bis zum Jahr 2005 konzipierte sie u.a. in Zusammenarbeit mit Marc von Miquel und Julia Volmer-Naumann die Dauerausstellung "Wiedergutmachung als Auftrag". Bereits vor ihrer Mitarbeit in dem Münsteraner Geschichtsort absolvierte sie ein Praktikum bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Während dieser Zeit ist sie auf die Arbeit der Bundesstiftung aufmerksam geworden und hat sich für das Stipendiatenprogramm beworben. Seit März 2006 gehört sie nun zu einem ausgewählten Kreis von Nachwuchswissenschaftlern, die sich mit der Aufarbeitung der DDR- Geschichte beschäftigen. An der Entwicklung eines Gedenkprojekts zur Erinnerung an die Opfer der SED-Diktatur am Geschichtsort Villa ten Hompel war sie federführend beteiligt, das innovative Angebot in Kooperation mit der Akademie Franz Hitze Haus in Münster richtet sich an Jugendliche und junge Erwachsene.

"Die DDR im Blick" liefert dafür Hintergrundinformationen und präsentiert die zu "Geschichten" geformten Forschungsergebnisse von 28 der ehemaligen und derzeitigen Stipendiatinnen und Stipendiaten der Stiftung. Pünktlich zum zehnjährigen Bestehen der Stiftung öffnen die jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Geschichtswerkstätten und ermöglichen dem Leser einen Einblick in die von ihnen geleistete Pionierarbeit. Nur ansatzweise lassen die Ergebnisse die jahrelange Odyssee durch kilometerlange Aktenberge und mit Literatur, Foto- und Textdokumenten gefüllten Regalen erahnen. Der Zugang der Nachwuchsforscher zu Quellen und Stoff gestaltet sich dabei oftmals sehr unterschiedlich. Die beeindruckende Vielfalt der Arbeiten verdeutlicht dies: Sie sind facettenreich, wie die DDR selbst.

Insgesamt 27 Beiträge bieten einen jeweils eigenen, für viele Leser vermutlich überraschenden Blick auf die DDR-Vergangenheit. Die thematische Bandbreite streift Alltägliches, wie Mode, Musik und Literatur, wendet sich dem Tourismus, aber auch dem Terrorismus zu. Die vier großen Kapitel ("Herrschaft im Alltag - Alltag der Herrschaft", "Aufbrüche und Ausbrüche", "Grenzüberschreitungen" und "Reflexionen und Wahrnehmungen") sollen eine Hilfestellung zur Orientierung geben, nehmen dem Leser eine intensive Durchsicht des Inhaltsverzeichnisses jedoch nicht ab. Eines fällt dabei auf: Wirken die einzelnen Geschichten selbst nach den Aussagen der Herausgeberinnen oftmals skurril, wird dies für den Leser bereits beim Lesen der Überschriften deutlich ("Die Geschichte der individuellen Kuh", "Mit dem Rollschinken nach Utopia"). Jedoch ist es gerade die scheinbare Skurrilität, die diesen speziellen Blick auf die DDR zu etwas Besonderem werden lässt und Neugierde weckt.

Kann aber eine auf den Alltag fokussierte Aufarbeitung dem historischen Bild der Diktatur gerecht werden? - Ja, das kann sie, gerade auf diese Weise. Die Autoren haben erkannt, dass die Forschung bis in die noch so kleinste Alltagsnische der DDR vordringen muss, um das wahre Gesicht der diktatorischen Macht zu präsentieren. Der sehnsuchtsvolle "Blick gen Westen", den auch das Coverbild erahnen lässt, füllt sich für den Leser mehr und mehr mit Inhalt. Die einzelnen Geschichten führen anschaulich vor Augen, dass es allzu oft keine Möglichkeit gegeben hat, selbst den privaten Raum vor den Blicken des Staates zu schützen.

Und doch fanden die DDR-Bürger Mittel und Wege, um der Diktatur - wenigstens temporär - zu entkommen. So beschreibt Patricia F. Zeckert in "Versammlung von Sehnsucht", wie die Leipziger Buchmesse zumindest ansatzweise eine Chance bot, für einige Tage "der geistigen Enge des Staates" (S.181) zu entfliehen; nämlich dort, wo tagelang Bücher abgeschrieben oder im Mantelsaum aus der Messehalle geschmuggelt wurden, um etwas aus dem "Westen" zu erfahren.

Diese Westorientierung blieb nicht unbemerkt. Zwecks Kontrollhandhabung wurde der Westen daher oftmals großzügig und "weltoffen" imitiert, was Anna Pelka in "Wie der Pop in den Osten kam" darstellt und den Leser ein ums andere Mal schmunzeln lässt.

Weniger amüsant, aber genauso eindrucksvoll ist der Beitrag von Susanne Muhle. Unter der Überschrift "Mit "Blitz" und "Donner" gegen den Klassenfeind. Kriminelle im speziellen Westeinsatz des Ministeriums für Staatssicherheit" befasst sie sich anschaulich mit einem bislang wenig beachteten Aspekt der berüchtigten "Stasi".

Die Mischung aus Kopfschütteln und Schmunzeln macht den Leser immer wieder neugierig und bringt ihn jedes Mal aufs Neue zum Weiterlesen. Im Laufe des Buches stößt er sowohl auf die Bemühungen der Obrigkeit, die Macht an der Staatsspitze zu sichern wie auch auf die Versuche der DDR-Bürger, sich diesem Herrschaftssystem zu widersetzen. Er wird einige "Genossen", die dem Regime entfliehen wollen, auf ihrer Reise mit dem Urlauberschiff "Fritz Heckert" begleiten (Andreas Stirn: "Mit dem Rollschinken nach Utopia"). Und oftmals sehnsüchtig mit den "Staatsinsassen" gen Westen schauen.

Ihren selbst formulierten Anspruch, ein zeithistorisches Lesebuch zu veröffentlichen, können die Herausgeberinnen erfüllen. Mit ihrem Mut, Forschungsergebnisse in Form von "Geschichten" zu präsentieren, belohnen die Autoren den Leser mit einem spannenden und abwechslungsreichen Eindruck von der ostdeutschen Vergangenheit. Das Wagnis, bei der Auseinandersetzung mit der DDR Staub aufzuwirbeln und trotzdem Wissenschaft mit Lesevergnügen zu verbinden, ist selten - aber gelungen und darum lesenswert.

Titel: "Die DDR im Blick"

Hrsg.: Muhle, Susanne / Richter, Hedwig / Schütterle, Juliane

Ort: Berlin, 2008

ISBN: 978-3-940938-04-6

Umfang: 327 S.

Preis: 19,00 €

Siehe auch

Beatrix Bouvier, Rezension zu: Muhle, Susanne; Richter, Hedwig; Schütterle, Juliane (Hrsg.): Die DDR im Blick. Ein zeithistorisches Lesebuch. Berlin 2008. In: H-Soz-u-Kult, 31.03.2009.

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