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Das "Dort" im Gedächtnis halten. Gegen jegliche gesellschaftliche Demenz

Anmerkungen zu Auschwitz: NRW-Schulministerin Löhrmann ermutigte

Jugendliche in Münster zum Gespräch über die Geschichts- und

Gedenkkultur. Eine Reportage zu ihrem Besuch in der Villa ten Hompel.

Verfasst am 02. Juli 2013

Textautor: Willi Haentjes. Foto: Stefan Querl, Villa ten Hompel.

Die Frau am Kopf des Tisches ist hoch konzentriert. Mit wachen Augen
folgt sie den wechselnden Ausführungen der drei Schüler, die zu ihr
sprechen. Ab und zu nickt sie, stellt eine Verständnis- oder Folgefrage.
Sie ist in diesem Moment nicht die Sylvia Löhrmann, die das Ministerium
für Schule und Weiterbildung leitet. Die Grünen-Politikerin schlüpft in
eine Rolle, die sie eigentlich vor knapp 20 Jahren aufgegeben hat: Sie
wirkt wie die Deutsch- und Englisch-Lehrerin, die bis 1995 ihre Brötchen
an einer Solinger Gesamtschule verdient hat. Sie ist nicht Frau
Ministerin, sondern Frau Löhrmann.

Die stellvertretende Ministerpräsidentin folgte am 1. Juli der
Einladung des Arbeitskreises aller NS-Gedenkstätten und Erinnerungsorte
in Nordrhein-Westfalen sowie der Stadt Münster und traf sich in der
Villa ten Hompel mit Schülerinnen und Schülern der
Kardinal-von-Galen-Realschule Mettingen. Sie selbst sprach bei diesem
Besuch nicht viel – sie lauschte eher den Worten von Nele Markmeyer,
Rhea Schmidt und Henning Overberg. Die drei Zehntklässler waren Teil
einer Schülergruppe, die im April die KZ -Gedenkstätte Auschwitz im
polnischen Oświęcim besuchten. Fast ein Jahr lang bereiteten sie sich
zum Teil außerhalb des Unterrichts auf die Fahrt vor – und konnten von
Eindrücken berichten, die sich wohl in ihr Gedächtnis eingebrannt
hatten.

„Als ich von dem Turm aus das gesamte Gelände überblicken konnte, war
ich schockiert. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass dort so viele
Menschen gelebt haben. Und sterben mussten“ Rhea trägt die Bilder mit
sich. Den Gang durch das ehemalige Lager kann sie detailliert
beschreiben. Während sie sich erinnert, suchen ihre Augen nicht den
Blick der Ministerin oder ihrer Mitschüler, sondern einen unsichtbaren
Punkt an der Wand. „In Birkenau, als ich am Block von Erna de Vries
stand, musste ich an sie denken. Sie war damals so alt wie ich – ich
kann mir das immer noch nicht vorstellen.“ De Vries besuchte die
Schüler im Vorfeld der Auschwitz-Fahrt und berichtete von ihren
Erlebnissen im KZ. Während die Mithäftlinge um sie herum einer nach dem
anderen starben, überlebte de Vries sogar die Todesmärsche. Die neu
gewonnene Freiheit verbringt sie in Deutschland, bis heute lebt sie im
Emsland und erzählt ihre Geschichte in Schulen.

Henning ist etwas anderes im Gedächtnis geblieben. „Wir standen dann
dort, wo einmal die Todeswand war. Menschen mussten dabei zusehen, wie
ihre Angehörigen erschossen wurden. Danach wurden sie selbst vor die
Wand gestellt.“ Er hat erst einmal genug von Gedenkstätten. Die
intensive Vor- und Nachbereitung, der emotionale Besuch von Auschwitz
– das alles muss auch noch verarbeitet werden. „Aber ich bin froh,
dass ich das gemacht habe.“ Nele bringt dann das auf den Punkt, was
wohl jeder aus dem Trio so unterschreiben würde: „Ich wäre nie alleine
dorthin gefahren. Das alles gemeinsam mit Freunden zu erfahren und zu
erleben war mir sehr wichtig.“ Die Fakten der Nazi-Gräuel werden im
Unterricht auf den Punkt und in den Kopf gebracht. Um wirklich Schlüsse
daraus zu ziehen, muss das Herz erreicht werden. Rhea sucht wieder den
Punkt an der Wand: „Als wir dort waren, schien die Sonne. Es war
unwirklich. Im Winter oder Herbst, wenn Schnee oder Laub fällt, wäre das
alles einfacher zu begreifen dort.“

Dort. Rhea, Nele und Henning packen den Todesapparat von Auschwitz in
vier Buchstaben, den Ort selbst benennen sie kaum. Sylvia Löhrmann war
auch dort. Am 27. Januar 2013 nahm sie an den offiziellen
Gedenkfeierlichkeiten zum 68. Jahrestag der Befreiung des Lagers teil.
Als Ministerin will sie sich nicht nur mit Schulgesetzen herum schlagen,
sondern nach eigenem Bekunden auch die Erinnerungskultur als Möglichkeit
der politischen Bildung für Kinder und Jugendliche vorantreiben.
„Erinnern, das heißt die Zukunft gestalten.“ In NRW wird dieses
Thema an vielen Baustellen beackert, aktuell sortiert das Ministerium
die verschiedenen Angebote. „Wir wollen ein Konzept mit Leitlinien
erstellen, das die Nutzung von außerschulischen Lernorten
intensiviert.“ Es soll ein Netzwerk entstehen zwischen den Akteuren
von Schulen, Ministerium und Gedenkstätten. Aber, und darauf legt sie
Wert, das Ganze geschieht nicht von heute auf Morgen. „Wir gehen das
Schritt für Schritt an, nicht auf Knopfdruck. Es geht um einen
nachhaltigen Lerneffekt.“ Die Schüler sollen nicht auf die nächste
Klassenarbeit vorbereitet werden, sondern ein Stück Lebensbildung mit an
die Hand bekommen.

Genau darauf kommt es Prof. Dr. Alfons Kenkmann an. Der Vorsitzende des
Arbeitskreises der NS-Gedenkstätten und Erinnerungsorte in
Nordrhein-Westfalen sieht die Einrichtungen wie die Villa den Hompel als
ein Medikament gegen „die Demenz auf dem Gebiet der
Erinnerungskultur.“ Umso wichtiger sei es, nicht nur Fahrten wie
die nach Auschwitz zu ermöglichen, sondern auch an authentischen Plätzen
eine fundierte Vor- und Nachbereitung zu gewährleisten. Diese
didaktischen Schnittstellen ersetzen den Geschichtsunterricht zwar
nicht, aber sie ergänzen ihn um ein wertvolles Gut. „Wir vermitteln
Wissen, Orientierung und Reflexion – nicht nur Fakten.“ Christoph
Spieker sagt das nicht ohne Stolz. 190 Schulklassen konnte der Leiter
der Villa im vergangenen Jahr am Geschichtsort begrüßen.

Zum Abschluss trägt sich die Ministerin noch in das Gästebuch ein. Sie
gibt den Stift an Rhea weiter und fragt, was man bei der Vor- und
Nachbereitung anders machen könnte. Dieses Mal schaut sie der Ministerin
fest in die Augen. „Nichts. Es ist gut so, wie es ist.“

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