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Kein plumper Verriss, sondern kapitelweise fundiert klare Kritik: "Wir müssen das Buch heute als Quelle anders lesen!"

Damals war es Friedrich als spannendes Vortrags- und Diskussionsthema in der Begegnungsstätte Alte Synagoge Wuppertal: Leiterin Dr. Ulrike Schrader hielt ein sorgsam abgewogenes Plädoyer für alternative Lektüren im Unterricht. Sie brachte damit eines ihrer zentralen Anliegen gegen Antisemitismus und Stereotype zur Sprache, nämlich einen reflektiert-kritischen Umgang mit vermeintlich gut gemeinter Jugendliteratur.

Verfasst am 01. Oktober 2020

Ihre Worte waren sorgsam abgewogen, ihre Kritikpunkte anhand von Zitaten und Zeitläuften aus einzelnen Kapiteln beeindruckend kundig fundiert: Dr. Ulrike Schrader, Leiterin der Begegnungsstätte Alte Synagoge in Wuppertal, nahm sich einen spannenden Vortrags- und Diskussionsabend lang "Damals war es Friedrich" vor. Den "Klassiker" des Deutschunterrichts der Mittelstufe in vielen Schulen. Aber eben auch, so sagte es die Referentin, eine aus ihrer Sicht "hoch problematische Lektüre". Diese stehe für eine "Täter-Opfer-Umkehr" und den Versuch einer Erlebnisgeneration, sich zu entlasten und von Schuld oder Verantwortung frei zu sprechen. So tradiere der auf junge Leute zugeschnittene, sprachlich aber eher überkommene Lesestoff einen Antisemitismus voller Stereotype, der sich teils sogar in den Worten freundlich-gütiger, positiv besetzter Romanfiguren grell abbilde. Das noch nicht einmal irgendwo versteckt zwischen den Zeilen. So war der Vortragstitel von der "Verschlagenheit" und "Hinterlistigkeit" der Juden als Zitat einer vermeintlich religiös kundigen "Erläuterung" eines nichtjüdischen Lehrers zur Rolle der Thora und zum Judentum im Allgemeinen entnommen. "Mit einem wirklich sehr verqueren Bild zur Thora, für mich fast ein Fall von drastischer Vergewaltigung mit Worten", urteilte Dr. Ulrike Schrader messerscharf.

"Es ist mir ein tiefes Anliegen, darüber mit Ihnen zu sprechen", plädierte sie gleich zu Beginn ihrer Ausführungen in der ausgebuchten Begegnungsstätte Alte Synagoge, in die u.a. engagierte und interessierte Lehrkräfte gekommen waren. Ebenso dankbar wie rege stiegen sie mit in die wichtige Debatte ein. Dr. Ulrike Schraders nach eigenen Worten "kühne", allerdings auch Punkt für Punkt an Textstellen begründete These zog weite Kreise. Sie speiste sich merklich aus eigener jahrelangen, intensiven Auseinandersetzung mit dem Buch und mit einem "Schul- und Lehrbetrieb" im Lande, der teils wohlmeinend, allerdings viel zu unkritisch das Werk von Hans Peter Richter (1925-1993) in Klassen einsetze. Es sage eben mehr über die bleierne Zeit seiner Entstehung als die Vorgänge während der NS-Zeit, ihrer Vor- und gesellschaftlichen Versagensgeschichte aus.

Ihre Belege dafür mündeten jedoch keineswegs in einen plumpen Totalverriss des Jugendbuches, das in seinem Kern die Veränderungen im nachbarschaftlichen Verhältnis einer nichtjüdischen und jüdischen Familie und ihrer beiden Söhne in einer namenlosen deutschen Stadt und den Krieg als Schablonen für die Judenverfolgung nimmt und das "Schicksal" beschwört. Vielmehr stehe der Roman, der inzwischen in 69. Auflage auf dem Markt sei, für den mehrheitsdeutschen Zeitgeist und Diskurs der Anfang 1960er Jahre, für das Bild einer "skeptischen Generation" (die Vortragende zitierte hier Historiker Prof. Dr. Norbert Frei), die sich hinter einer Selbst-Viktimisierung und lange auch hinter dem Satz "Man konnte doch damals gar nichts machen!" versteckt habe, um die eigene aktive oder (zu) passive Rolle im Handeln, Unterlassen, im Mitläufertum, bei Verführung, Täterschaft, Terror oder Gewalt bis hin zur Shoah in Abrede zu stellen. "Ein Satz, der übrigens ebenso falsch wie heuchlerisch ist", unterstrich Dr. Ulrike Schrader mit Verweis auf den Kenntnisstand der heutigen Forschungslage, die sie gerade beim Aspekt Solidarität, "Hilfe und Rettung" jüdischer Verfolgter extrem genau ausleuchtete. So konnte sie Verdrehungen und Verzerrungen in verschiedenen Kapiteln nachweisen und herausarbeiten, dass „Damals war es Friedrich“ als Quelle völlig anders gelesen werden müsse als üblich.

Auch das Einbeziehen der drei gängigen Begleitmaterialien aus den Jahren 2015 und 2019 und eines inzwischen vergriffenen vierten Pakets davor aus dem Verlag an der Ruhr war eine besondere Glanzleistung geschichtsdidaktischer wie literaturwissenschaftlicher Analyse. Anfang der 1980er Jahre seien erste Bedenken in den Reihen der Wissenschaft aufgekommen, erinnerte sie und schlug einen Bogen zu heute. "Ich liebe Sprache", bekannte die Fachfrau leidenschaftlich, laut und klar. Sie könne eben gerade deshalb aber "weder in sprachlicher noch in historischer Hinsicht" erkennen, wieso der "Friedrich" noch als eine erste Ganzschrift in die Hände von Sechst- oder Siebtklässlern gehöre. "Da gibt es doch längst viel besser geschriebene und recherchierte Bücher."

Mehr zur Kinder- und Jugendliteratur in einer Online-Übersicht aus der Bibliothek in der BAS Wuppertal:
<link https: www.alte-synagoge-wuppertal.de fileadmin templates bas pdf bas_kinder_jugend_buecher.pdf _blank external-link-new-window>

www.alte-synagoge-wuppertal.de/fileadmin/templates/BAS/pdf/BAS_Kinder_Jugend_Buecher.pdf



Die Reihe der Vorträge über unterschiedliche Erscheinigungsformen des Antisemitismus und über Gegenstrategien wird fortgesetzt in Wuppertal:
<link https: www.alte-synagoge-wuppertal.de willkommen _blank external-link-new-window>

www.alte-synagoge-wuppertal.de/willkommen/



Autor: Stefan Querl, Geschichtsort Villa ten Hompel, Stadt Münster. Vorstandsmitglied im Arbeitskreis der NS-Gedenkstätten und Erinnerungsorte Nordrhein-Westfalen.


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