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"Mutter Courage" und ihre Kinder: Überleben im Untergrund

Neue DVD zum Rettungswiderstand gegen die NS-Besatzungsmacht an die Zeitzeugen in Israel und in den Niederlanden übergeben

Verfasst am 11. August 2008

Es gibt Geräusche, die kann sie nicht vergessen. Die verfolgen sie seit nunmehr über 66 Jahren. Das Quietschen von Bremsen und das Schlagen von Autotüren zum Beispiel. "Uns hatten sie das damals strengstens eingeimpft"; erinnert sich Ellis Lehmann. "Wenn draußen ein Wagen vorfährt, sofort ins Versteck und keinen Mucks mehr von sich geben." Suchtrupps, "grüne Polizei" oder Gestapo konnten schließlich im Anmarsch sein für Razzien. Oder wegen eines Verrats durch Kollaborateure oder durch den NSB, die örtlichen NS-Schergen in den Niederlanden während der braunen Besatzungsmacht im Krieg. "Vieles verstanden wir noch nicht, aber die Furcht der Erwachsenen übertrug sich auf uns Kinder."

Ellis und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Bob sind nicht verraten worden. Als jüdische Niederländer mussten sie mit ihrer Familie untertauchen, entgingen aber – im Gegensatz etwa zu Anne Frank und ihren Angehörigen in Amsterdam – der Verschleppung nach Osteuropa. Stille Helferinnen und Helfer im Rettungswiderstand bewahrten die Geschwister vor dem Massenmord, vor dem KZ und Durchgangslager Westerbork und damit vor Auschwitz.

"Das ist lange her", sagt die 84-Jährige selbst, "aber manchmal passiert es immer noch, dass ich nachts plötzlich aufwache und mich instinktiv verstecken möchte, wenn draußen vor meinem Fenster jemand parkt und aus dem Auto steigt."

Heute wohnen die Überlebenden des Holocaust in Israel, haben Familie und Freunde dort. Ellis Lehmann in Jerusalem, Bob Cohen mit seiner Ehefrau Elly in der Stadt Netanya am Mittelmeer. Eine Delegation aus Münster hat die beiden jetzt nicht nur besucht, sondern sie im Vorfeld auch mit einem Kamerateam sensibel und äußerst sorgsam porträtiert, ihre Lebensgeschichten, Familienschicksale und Schilderungen in Form einer DVD für Schule und Bildungsarbeit zugänglich gemacht. Offiziell vorgestellt wurde das Medium am Rande der Konferenz "Teaching the Shoah – Fighting Racism and Prejudice" in der zentralen Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, an der über 700 Gäste aus 52 Nationen teilnahmen. Unter den Delegierten waren auch Horst Wiechers und Stefan Querl als die beiden Vertreter aus dem Team des Geschichtsorts Villa ten Hompel in Münster, die von den Geschwistern Ellis und Bob privat sehr, sehr herzlich empfangen wurden.

"Mijn Grebbeberg" lautet der Titel der DVD, der Bezug nimmt auf eines der Verstecke nahe der niederländischen Ortschaft Rhenen, an das sich die Geschwister intensiv erinnern. "In ihrer Muttersprache berichten sie darüber, das war uns besonders wichtig, damit zum Beispiel auch Zwischentöne erkennbar bleiben", erläutert Horst Wiechers, Regionalsprecher von "Gegen Vergessen – Für Demokratie" e. V. im Münsterland und Mitbegründer des Projektes "Past to Present" wie auch des Fördervereins Villa ten Hompel. Mit Unterstützung dieser drei Institutionen erschien die erste Version des Films auf Niederländisch. "Wir bemühen uns jetzt in einem nächsten Arbeitsschritt um eine fundierte deutsche Untertitelung", kündigt der Fachlehrer am Immanuel-Kant-Gymnasium in Hiltrup an. Ausgewählte deutschsprachige Interviewsequenzen sind bereits seit einigen Jahren in der Villa ten Hompel verfügbar, wie Stefan Querl aus dem Team für Jugendbildung am Geschichtsort dankbar unterstreicht. "Ellis steht mit einem enormen Engagement als Zeitzeugin vor Gruppen Rede und Antwort."

Die neue DVD hilft zusätzlich dabei, diese Perspektive noch zu erweitern, denn nicht nur die "Onderduikers" selbst, also die Erzählungen der damals Untergetauchten, wurden in Form von Interviews in Israel und Drehterminen in Rhenen und an anderen authentischen Orten festgehalten. Cor Crum, Sohn der Familie Crum, die solidarisch mit den jüdischen Verfolgten ihr Haus teilte, spricht vor der Kamera offen von "seinem" Grebbeberg, davon also, wie er als Junge erlebte, dass plötzlich hinter der Fassade von Kriegsalltag und vermeintlicher Normalität im Ausnahmezustand die Ängste und der Zorn auf Hitlers Herrschaft, aber eben auch geheime Netzwerke gegen die Nationalsozialisten wuchsen.

Menschen schlossen sich zusammen, um zu tarnen und zu täuschen, um zusätzlich Nahrungsmittel, Wäsche, Medikamente zu besorgen, neue Verstecke anderswo aufzutun. Überlebenswichtig, doch dabei lebensgefährlich für alle Beteiligten. Bertha Crum, Cors Mutter und wahrhaft eine "Mutter Courage" in ihrem Handeln, gehört seit 2007 zu denjenigen Personen, die posthum in Yad Vashem als "Gerechte unter den Völkern" gewürdigt werden. Horst Wiechers überreichte Cor Crum in den Niederlanden bereits vor dem Besuch im Nahen Osten das erste Exemplar von "Mijn Grebbeberg".

Die NS-Besatzungszeit in den Niederlanden ist ein zentrales Forschungsthema für den Geschichtsort Villa ten Hompel der Stadt Münster mit vielen seiner niederländischen Partner, beispielsweise in Amsterdam oder in Aalten, wo ein Museum die historische Situation der einstigen Untertaucher dokumentiert. Der regionale Befehlshaber der Ordnungspolizei (BdO) in Münster, der während des Krieges in der Villa ten Hompel als NS-Schreibtischtäter residierte, war u.a. für einige der okkupierten Gebiete im Königreich zuständig.

Die DVD "Mijn Greebeberg" realisierte das Team von drijver-av.com in Enschede, Maret van de Dijk (Regie), Kameramann Patrick Drijver sowie Maarten de Groot (Ton), im Auftrag der Villa ten Hompel.

Genaue Daten zur DVD und Bezugsquellen unter Telefon 0251/492-7101 oder per E-Mail an: tenhomp@stadt-muenster.de

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