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Münster – Tel Aviv: Familie Seelig wurde nicht vergessen

Schüler der Paul-Gerhardt-Realschule gedenken den Opfern des Nationalsozialismus

Verfasst am 15. Dezember 2010

Die Schüler der Paul-Gerhardt-Realschule sitzen hautnah an der Geschichte: Dort, wo Ende der 50er Jahre - mitten im Münsteraner Zentrum, an der Jüdefelderstraße - das Schulgebäude errichtet wurde, stand zur Zeit des zweiten Weltkrieges eines der 13 Münsteraner „Judenhäuser“. Um die jüdische Bevölkerung bis zur Deportation besser unter Beobachtung zu haben, wurden viele Familien ihrem Umfeld entrissen. Nach dem Gesetz vom 30.April 1939, verpflichtete man die Familie des Kaufmanns Sigismund Neuhaus dazu, ihren Wohnraum an der Jüdefelderstraße, u.a. mit Familie Seelig zu teilen. Seit diesem Zeitpunkt mussten sich 11 Personen an die beengten Verhältnisse im „Judenhaus“ anpassen. Auf den gleichen Quadratmetern Höhen und Tiefen deutscher Geschichte zu lernen, motivierte die Schülerinnen und Schüler der Realschule schon vor vielen Jahren, sich intensiver mit der Vergangenheit des Ortes auseinander zu setzen. Etwas über jene Menschen zu erfahren, für die das „Judenhaus“ die letzte Station vor den Arbeits- und Deportationslagern der Nazis war.

Am Freitag, dem 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte, lockte die diesjährige Gedenkfeier besondere Gäste in die Aula der Paul-Gerhardt-Schule. Sanfte Klänge des Cellos vermischen sich mit den vorsichtigen Stimmen des Pianisten, fließen ineinander, seufzen schwermütig, erklimmen unbeschwerte Höhen und fallen in hoffnungslose Tiefen hinab. Es klingt, als würden die Musiker ihre Instrumente zum Weinen bringen, während sie von unbegreifbarem Grauen eines menschenverachtenden Deutschlands singen.

Die Schüler und geladenen Gäste in der Aula der Paul-Gerhardt-Realschule werden ganz still, als Ariane Oeynhausen-Brand und Andreas Wickel mit einem bekannten Stück des Komponisten John Williams die Gedenkstunde eröffnen. Der Vormittag ist der Familie Seelig gewidmet. Das „Judenhaus“ an der Jüdefelderstraße war ihre letzte, wenn auch erzwungene Heimat, bevor sie vor 69 Jahren mit der 1. Deportation Münsteraner Juden ihrem Schicksal in Riga entgegen ging. Gemeinsam mit ihren beiden Söhnen Kurt und Paul, teilte sich das Ehepaar Seelig zwei kleine Zimmer. Sohn Paul war zum Zeitpunkt der Deportation am 13. Dezember 1941 16 Jahre alt. Genau so alt, wie auch die Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 10, welche die Gedenkfeier, unter Gesamtleitung von Ulrike Schneider-Müller, gestalteten.

Im Publikum waren in diesem Jahr besondere Gäste. Schwiegersohn und Enkelinnen von Anita Prager, geb. Seelig, der einzigen Tochter des Ehepaars Seelig, die aufgrund glücklicher Umstände den Holocaust überlebte. Maya und Ami Reitan, wie auch ihr Vater Amit Ben-Haim, waren eigens für die Veranstaltung aus Tel Aviv, Israel, angereist.

Um sich den Gästen verständlich zu machen, gestalteten die Jugendlichen ihre Programmpunkte nicht nur in deutscher, sondern auch in englischer Sprache. Auf kreativer Weise präsentierten sie zunächst Idee und Geschichte der Stolpersteine, so auch der kleinen Erinnerungstafeln auf ihrem Schulhof. Die 1992 vom Künstler Gunter Demnig ins Leben gerufenen Gedenktafeln, erinnern heute in mehr als 10 europäischen Ländern an die Opfer des Nationalsozialismus. Über 22.000 kubische Betonsteine zieren einstige Wohnstätten der jüdischen Bevölkerung, wie auch anderer Bevölkerungsgruppen, die während des Nationalsozialismus geächtet und verfolgt wurden.

Die Theater-AG unter Leitung von Ariane Oeynhausen-Brand trägt die gnadenlose Atmosphäre des Warschauer Ghettos in die Halle der Schule. In einem szenischen Spiel zum Melodram „Ein Überlebender aus Warschau“ von Arnold Schönberg, erinnern die Jugendlichen an unmenschliche Behandlung zu Zeiten des Aufstandes im Warschauer Ghetto. Und beenden die Darstellung, ebenso wie von Schönberg geschrieben, mit dem Gesang des jüdischen Glaubensbekenntnis „Schma Israel“, mit dem die Gepeinigten der Brutalität zu entfliehen suchten.

16 Jahre alt sind sie, in der Mitte der Pubertät und kurz vor der Mittleren Reife stehen die Akteure der Gedenkfeier des 10.Dezember. Sie sind im gleichen Alter, wie auch Paul Seelig, als er vor fast 69 Jahren aus dem „Judenhaus“ in der Innenstadt Münsters abgeführt wird, um seinem traurigen Schicksal im Ghetto Riga entgegen zu gehen. In einem langen Brief, und ganz in ihrer jugendlichen Natürlichkeit, nähern sich die Schüler dem jungen Mann. Sie berichten aus Pauls Leben, beschreiben die Geschichte der Familie Seelig; verblasste schwarz-weiß Bilder zeigen höflich lächelnde Kindergesichter, holen Alltagsszenen aus längst vergangenen Jahren in die Halle der Realschule. 1939 noch versuchte das Ehepaar Seelig die Kinder in Sicherheit zu bringen, einigen Wenigen wurde die Ausreise nach Palästina genehmigt; junge kräftige Männer wurden dort für die landwirtschaftliche Arbeit gesucht. Doch für Familie Seelig gab es keine Chance. Noch fesselt die Schulpflicht ihre Kinder an Münster, ihre finanziellen Ressourcen reichen nicht aus, um vom Programm der Privilegierten kosten zu können. „Wir können uns dein Leben in diesem Judenhaus nicht vorstellen. Wie groß muss deine Angst vor der Ungewissheit gewesen sein.“ Die Schüler reichen das Mikro von Hand zu Hand, jeder möchte seine Stimme geben, um für einen kurzen Moment die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen.

Einzige Überlebende der Familie Seelig war Anita. Einem kinderlosen Ehepaar zur Pflege gegeben, wuchs sie ohne ihre leiblichen Geschwister und Eltern auf und hatte das Glück, schon 1939 nach Palästina fliehen zu können. Heute lebt Anita Prager mit ihrer Familie im Norden Tel Avivs, Israel. Die 87-jährige hat sich schon vor langer Zeit von Deutschland abgewandt – und würde nie wieder an ihren einstigen Wohnort zurückkehren. Viele Jahre sind vergangen, Kinder und Enkelkinder kamen zur Welt, erkannten die „neue Heimat“ als ihr Zuhause. Die Erinnerungen verblassten, nur das Familienbild an der Wand erzähle noch von der schmerzvollen Vergangenheit der Familie Seelig… erzählt Maya Reitan dem berührten Publikum in der Jüdefelderstraße. In einem langen Brief beschreibt die heute 33-jährige Enkelin Anita Pragers ihre Verbindungen mit Deutschland, ihre Suche nach einer das Jüdische und Israelische in Einklang bringenden Identität und den Moment, in dem ihr klar wurde, dass sie sich der Geschichte ihrer Familie stellen muss. Maya Reitan redet in ihrer Muttersprache Hebräisch, es scheint, als würden die Sätze wie ein Fluss aus ihr herauspreschen; für den Sprachfremden ist es schwer, einzelne Worte zu definieren. Abschnitt für Abschnitt wiederholt Schulleiterin Cordula Bittner den Brief in deutscher Sprache, gibt der jungen Israelin Zeit, durchzuatmen. Gibt ihr auch Zeit, die aufkommenden Tränen aus dem Gesicht zu wischen. .. Und uns die emotionale Wucht ihrer Worte verstehen zu lassen. Die Geschichtsstudentin Maya Reitan ist eine beeindruckende Rednerin, eine tiefgründige Denkerin.

Lange Zeit war der Holocaust in ihrem Elternhaus Tabu. Doch die Geschichte holte sie ein und heute ist Maya Reitan ihr persönlicher Auftrag mit aller Klarheit bewusst. „Es ist so einfach an den Schildern vorbei zu gehen, ohne sie zu sehen. Ich bin hier, damit ihr wisst, dass hinter diesen Schildern eine Geschichte steckt. Dass es eine Fortsetzung der Namen auf den Steinen gibt.“ Mit spontanen Standing Ovations und lang anhaltendem Applaus, zeigen die Schülerinnen und Schüler, dass sie diese Botschaft verstanden haben. Und dass mit ihnen die Geschichte der jungen Frau Reitan und ihrer Familie weiterleben wird.

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