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Die historische Hypothek von Hadamar

Schüler und Studenten aus Münster forschten vor Ort in Hessen zu „Euthanasie“-Verbrechen, Sozialpolitik und Psychiatriegeschichte.

Verfasst am 11. Februar 2005

Noch während in dieser Woche eine junge Seminargruppe aus Münster im hessischen Hadamar und in Limburg tagte, berichteten die großen Nachrichtenagenturen aus einem Gerichtssaal in Gera: Dort wurde am Mittwoch das Aufsehen erregende, bundesweit letzte Strafverfahren wegen NS-Medizinverbrechen an psychisch Kranken und Menschen mit Behinderungen eingestellt. Weil die angeklagte Ärztin zu alt, gebrechlich und nicht mehr verhandlungsfähig war. Alle Tatvorwürfe hatte die 89-Jährige stets bestritten, juristisch ließ sich die Schuldfrage konkret nicht mehr klären.

Einer der sechs Tatorte, an dem während des Zweiten Weltkrieges Kranke und Behinderte grausam in Gaskammern ermordet wurden, ist Hadamar. Und an dieser enorm schweren historischen Hypothek trägt die Kleinstadt bis heute, wie die Seminarteilnehmer unterwegs in Gesprächen erfuhren. Die Gruppe – u.a. aus Schülerinnen und Schülern des Annette-von-Droste-Hülshoff-Gymnasiums und aus Studierenden der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster – recherchierte dazu intensiv in der dortigen Gedenkstätte, die Akten zu Verfolgtenschicksalen und zu Täterbiographien verwahrt: Vernehmungsprotokolle der Nachkriegszeit, aber eben auch die bedrohlich bürokratischen „Meldebögen“ aus Heil- und Pflegeanstalten, die Tötungen vorbereiten und zugleich verschleiern sollten. Auch das Wort „Euthanasie“ („guter, würdiger Tod“) gehörte zur Tarnsprache der Täter, die das Gegenteil meinten und praktizierten. Bis energischer Protest wie der von Münsterschen Kanzeln, auf denen Bischof Clemens August Graf von Galen predigte, die Führung verunsicherte. Die Mordmaschinerie des Hitler-Regimes kam ins Stocken, ganz zum Erliegen jedoch leider nie.

An die Opfer dieser braunen „Medizin ohne Menschlichkeit“ zu erinnern – dazu hatten die Katholisch-Soziale Akademie Franz Hitze Haus und der Geschichtsort Villa ten Hompel im Rahmen eines laufenden Ausstellungsprojektes zum Bistumsjubiläum aufgerufen. Wobei das Seminar in Hadamar, das u.a. die Bundeszentrale für politische Bildung unterstützte, bewusst über rein historische Forschungen hinaus ging und die jungen Erwachsenen zu eigenen Analysen anregte. Berührte doch die Begegnung mit dem Ort und dem „Zentrum für Soziale Psychiatrie“, wie das Krankenhaus- und Anstaltsgelände mit Forensik, geschlossenen Abteilungen und Suchttherapie-Stationen heute offiziell heißt, auch sozialpolitische und ethische Grenzfragen der Gegenwart. „Wie human, wie offen und tolerant eine Gesellschaft wirklich ist, entscheidet sich an deren Rändern, also vor allem in ihrem Umgang mit Schwachen, Bedürftigen oder Unangepassten“, bündelte Stefan Querl von der Villa ten Hompel die Ergebnisse einer Seminareinheit vor Ort, die er mit Christine Schmidt, Nicole Heimsoth und Hanne Kemna aus dem Referentinnenteam vorbereitet hatte

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