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„Ich erinnere mich an diesen Deutschen genau“

Neue Ausstellung erinnert an den „Lischka-Prozess“ gegen NS-Täter aus dem Jahr 1979

Verfasst am 11. Mai 2006

Wie erinnerte man sich in der Bundesrepublik in den 1970er-Jahren an die Verbrechen des Nationalsozialismus? Welche Rolle spielten die Täter, welche Rolle die Opfer und wie verhielt sich die Justiz? Der Prozess gegen die Nationalsozialisten Kurt Lischka, Herbert M. Hagen und Ernst Heinrichsohn, der von Oktober 1979 bis Februar 1980 vor dem Schwurgericht beim Kölner Landgericht stattfand, markierte den Beginn eines neuen Denkens über Recht und Unrecht, Schuld und Verantwortung. Dieser Einstellungswandel fiel schwer: Auch dreißig Jahre nach Kriegsende bedurfte es in der Bundesrepublik noch einer gewissen Zivilcourage, um öffentlich Stellung gegen die Täter aus der Nazi-Zeit zu beziehen.

Eine neue Sonderausstellung im NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln (EL-DE-Haus) will nun ab Donnerstag, 12. Mai 2006 diesen Fragen und Themenfeldern nachgehen.

Lischka war in Köln kein unbeschriebenes Blatt. Von Januar bis Oktober 1940 leitete er die Zentrale der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Köln, die ihren Sitz im EL-DE-Haus hatte. Zuvor war der promovierte Jurist bereits Chef des Judendezernats bei der Gestapo in Berlin gewesen und verantwortlich für die ersten Massenverhaftungen nach der Reichspogromnacht. Nach seiner Zeit in Köln wurde Lischka im November 1940 als Kommandeur der Sicherheitspolizei (Sipo) und des Sicherheitsdienstes (SD) nach Paris versetzt. Dort ordnete er im Juni 1942 die ersten Massenrazzien der SS in Paris an und war als klassischer „Schreibtischtäter“ einer der Hauptverantwortlichen für die Deportation von rund 76.000 französischen Juden in Vernichtungslager. Ende 1943 kehrte Lischka nach Berlin zurück und gehörte u. a. im Sommer 1944 der „Sonderkommission 20. Juli 1944“ an.

Für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wurde Lischka nach dem Krieg nicht. Zwar lieferten die Briten den zunächst untergetauchten und dann in St. Peter Ording verhafteten SS-Mann 1947 in die Tschechoslowakei aus. Eine Untersuchung dort endete jedoch genau wie ein späteres Spruchkammerverfahren der Staatsanwaltschaft Bielefeld mit Freispruch. Nur ein französisches Militärgericht in Paris verurteilte Lischka 1950 zu lebenslanger Haft, allerdings in Abwesenheit. Lischka lebte zu dieser Zeit schon wieder in Köln, wo er als Prokurist einer Getreidegroßhandlung arbeitete. In der neu gegründeten Bundesrepublik war er vor dem Urteil der französischen Justiz geschützt. Denn der 1955 zwischen Deutschland und den drei Westmächten geschlossene „Überleitungsvertrag“ legte fest, dass Personen, gegen die von alliierten Gerichten abschließend geurteilt worden war, in der BRD nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden durften. Eine Auslieferung des deutschen Staatsbürgers Lischka hätte gegen das Grundgesetz verstoßen.

Dass die deutsche Justiz dem ehemaligen SS-Mann doch noch den Prozess machte, ist der Initiative des Ehepaares Beate und Serge Klarsfeld zu verdanken. Sie wurden Anfang der siebziger Jahre auf Lischka aufmerksam und ermittelten seine Privatanschrift im Kölner Stadtteil Holweide. Ihr Plan bestand darin, Lischka zu entführen und in seine ehemaligen Diensträume nach Paris zu bringen. Dort sollte er vor der Weltpresse der französischen Justiz übergeben werden. Doch der Entführungsversuch im März 1971 misslang und statt einer öffentlichen Anklage Lischkas durch die Medien beantragte die Oberstaatsanwaltschaft Köln nun Haftbefehl gegen Serge Klarsfeld. Noch immer wusste die deutsche Bevölkerung nichts von Lischkas Tätigkeit während des Krieges. Daher nahm Beate Klarsfeld Ende März 1971 Kontakt zur Kölner Presse auf und gestand den Entführungsversuch. Zwar war der darauf folgende Aufruhr in den Medien groß, aber der NS-Täter blieb weiterhin auf freiem Fuß.

Anfang April 1971 legten die Klarsfelds der Kölner Staatsanwaltschaft weiteres Belastungsmaterial gegen Lischka vor. Sie glaubten, dass eine Strafverfolgung kurz bevor stehe. Allerdings wurde nicht Lischka, sondern Beate Klarsfeld festgenommen und ein Haftbefehl gegen sie beantragt. Das folgende Verfahren endete mit zwei Monaten Freiheitsentzug ohne Bewährung. Besonders in Frankreich und Israel löste die Entscheidung einen regelrechten Proteststurm aus. Das gestiegene öffentliche Interesse nutzten die Klarsfelds für neue Demonstrationen und Protestaktionen. Im September 1974 zahlten sich ihre Anstrengungen schließlich aus. Der deutsche Bundestag erließ ein Zusatzabkommen zum Überleitungsvertrag, das auch als „Lex Klarsfeld“ bekannt wurde und den Weg zum Lischka-Prozess freimachte.

Allerdings dauerte es noch vier Jahre bis eine 212 Seiten starke Anklageschrift fertig war. Im Oktober 1979 standen Kurt Lischka und seine früheren Mitarbeiter Herbert M. Hagen und Ernst Heinrichsohn vor dem Richter des Kölner Landgerichts. Knapp 35 Jahre nach Kriegsende, im Februar 1980 wurden alle drei Angeklagten schuldig gesprochen. Es war die erste und auch einzige rechtskräftige Verurteilung deutscher Täter im Zusammenhang mit der „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich. Obwohl zu zehn Jahren Haft verurteilt, konnte Lischka schon 1985 das Gefängnis wieder verlassen. Er lebte danach wieder in Köln, aber ist inzwischen wie seine beiden ehemaligen Mitarbeiter verstorben.

Die neue Sonderausstellung im Kölner EL-DE-Haus steht unter dem Motto „Ich erinnere mich an diesen Deutschen ganz genau“, ein Zitat der Zeugin Erna Schnarch aus dem Lischka-Prozess. Erarbeitet und konzipiert wurde die Ausstellung von Schülern und Studenten der „Projektgruppe zum Lischka-Prozess“ aus dem Kölner Jugendclub Courage. Im Mittelpunkt steht ein inszenierter Gerichtssaal, der es ermöglichen soll, die Perspektive –Täter, Opfer, Zuschauer – zu wechseln. Um den Gerichtssaal herum werden die Besucher durch die verschiedenen Etappen der Geschichte geführt, wie zum Beispiel die Kollaboration des französischen Vichy-Regimes mit den Nationalsozialisten oder einzelne Fälle der Nachkriegsjustiz.

Auch eine aktuelle Diskussion wird in der Ausstellung angeschnitten: Zwischen 1942 und 1944 hatte die damalige Deutsche Reichsbahn allein 11.000 jüdische Kinder aus Frankreich nach Auschwitz und in andere Vernichtungslager transportiert. Nun dreht sich die öffentliche Debatte darum, ob es die Deutsche Bahn AG erlaubt, eine Ausstellung mit Fotos und anderen Dokumenten über diese Transporte auf deutschen Bahnhöfen zu zeigen. Initiatorin dieser Ausstellung mit dem Titel „11.000 jüdische Kinder – Mit der Reichsbahn in den Tod“ ist keine Geringere als Beate Klarsfeld.

Rund um die Ausstellung ist ein vielfältiges Begleitprogramm mit Zeitzeugenveranstaltungen, einem Filmprogramm und einem Seminar zum Thema „Holocaust und Vergangenheitsbewältigung in Frankreich und Deutschland“ geplant (nähere Informationen s. unten: Link zur Ausstellung begleitenden Internetseite).

Bis Samstag, 16. September 2006 ist die Ausstellung jeweils dienstags bis freitags von 10.00 bis 16.00 Uhr und samstags / sonntags von 11.00 bis 16.00 Uhr geöffnet. Der Eintritt kostet einschließlich des Besuchs der Gedenkstätte und der Dauerausstellung des NS-Dokumentationszentrums 3,60 €, ermäßigt 1,50 €.

Weitere Informationen zur Ausstellung sowie zum Begleitprogramm finden Interessierte auf der eigens zur Ausstellung eingerichteten Internetseite.

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