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Delegationsreise nach Polen (2): Europäische Perspektiven auf nationale Geschichten?

Das Museum des Zweiten Weltkriegs und das Europäische Zentrum der Solidarnosc in Danzig waren die ersten Ziele der Delegation aus NRW. Beide Einrichtungen verdeutlichen die europäische Dimension der deutschen und polnischen Geschichte auf besondere Weise. Bei allen erinnerungskulturellen Kontroversen und schwierigen Fragen, wie man die Folgen von Krieg, aber auch friedlichen Protesten vermitteln kann, waren sich Gastgeber und Gäste einig: Die Menschen sollen immer im Mittelpunkt stehen.

Verfasst am 23. April 2017

Nach einer Stadtführung durch das historische, nach 1945 weitgehend rekonstruierte Zentrum Danzigs standen am Sonntag gleich zwei große Einrichtungen auf dem Programm der Delegation von NS-Gedenkstättenmitarbeiterinnen und -mitarbeitern aus NRW. Das Museum des Zweiten Weltkriegs hat dabei nicht zuletzt durch die gegenwärtigen politischen Konstellationen in Polen besondere Aufmerksamkeit erfahren. Aber auch das Europäische Zentrum der Solidarität in Danzig verfolgt eine Bildungspolitik, die eine „Alltagssolidarität“ im Umgang mit allen Bevölkerungsgruppen Polens fördern möchte und damit gegenwärtige nationalistische Tendenzen kritisch hinterfragt.

Das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig: Ungewisse Zukunft für das derzeit größte historische Museum Polens

2007 gab der damalige Ministerpräsident Donald Tusk die Gründung eines Museums in Auftrag, das die Geschichte Polens im Zweiten Weltkrieg sowie dessen Vor- und Nachgeschichte in einen europäischen Rahmen einordnen sollte. Nach mehr als sieben Jahren konzeptioneller Arbeit konnte die Ausstellung vor knapp einem Monat eröffnet werden. Ein Besuch des Museums zeigt: Die Macher haben ihren Auftrag ernst genommen. Wie ein roter Faden zieht sich eine Perspektive durch die rund 5000 Quadratmeter große Ausstellungsfläche, die die Spuren von Verwüstung und Tod zeigt, wie sie der Zweite Weltkrieg in den so genannten "bloodlands" (Tymothy Snyder – zugleich Mitglied des wissenschaftlichen Museums-Beirats) Osteuropas zwischen der stalinistischen und der nationalsozialistischen Diktatur hinterlassen hat. Gleichwohl aber hatten und haben Kriege universell traumatische Folgen für die betroffenen Menschen. Daraus leitet sich der Anspruch des Museums ab, ein möglichst vollständiges Bild von Krieg zu zeigen. So wird bewusst nicht die Inszenierung heldenhafter Soldatentode, sondern das sinnlose Leid von Zivilbevölkerungen in den Fokus gerückt - in Polen, aber eben auch in anderen europäischen Ländern.

Diesen wissenschaftlichen Auftrag formulierte vor einem knappen Monat bei der Eröffnung noch Prof. Dr. Paweł Machcewicz als Leiter der Einrichtung. Dass der Direktorenposten nun neu besetzt wird, ist auch darauf zurückzuführen, dass sich in derselben Zeit seit Gründung der Einrichtung die politische Stimmung gewendet hat. Vor dem Museum zeugen zahlreiche rot-weiße Bänder von der symbolischen Unterstützung, die dem ehemaligen Direktor Machcewicz entgegen gebracht wird. Der Stimmungswandel ist an den politischen Forderungen an die gesamtpolnische Erinnerungskultur genauso wenig vorbeigegangen wie an dem Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig. Die aktuelle nationalkonservative Regierung kritisiert das Museum harsch: Die polnische Perspektive komme zu kurz, zudem gebe es nicht genügend positive Orientierungspunkte für Polen. Auch nachdem die Mitarbeiter die Eröffnung ihrer Ausstellung in den letzten Monaten forcierten und international viel Beifall erhielten, droht ihnen weiter eine staatlich angeordnete Überarbeitung.

Aus fachlicher Perspektive bestätigt sich diese Kritik von Seiten der Regierung nach einer ausführlichen Betrachtung nicht. Auch weil der Ausstellungsauftrag ernst genommen wird, ziehen sich polnische Perspektiven kontinuierlich durch die europäische Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Bewusst wird der Zweiteilung des Landes per Buntstiftstrich durch Hitler und Stalin beziehungsweise ihre Vertreter die Geschichte einer Polin entgegengesetzt: Elzbieta Zahorska kämpfte seit September 1939 gegen die deutschen Besatzer, bis diese sie im November 1939 zum Tode verurteilten, weil sie ein antibritisches Propagandaposter heruntergerissen hatte.

Vorsichtig nähert sich die Ausstellung der schwierigen Täterfrage, spart dabei aber auch umkämpfte Erinnerungsorte wie Katyn nicht aus, das als Tatort sowjetischer Morde an mehreren tausend polnischen Offizieren im Mai 1940 zuerst von den nationalsozialistischen deutschen Besatzern für Propagandazwecke instrumentalisiert wurde. Später machte die Sowjetunion NS-Deutschland für das Massaker verantwortlich. Dass diese Verbrechen bis weit über den Systemwechsel seit 1989 hinaus ein öffentliches Tabu blieben, erklärte ein Museumsmitarbeiter in seiner Führung. Verantwortlich für den Massenmord in Vernichtungslagern waren Nationalsozialisten, und auch der vorhergehende „Holocaust durch Kugeln“ wurde von deutschen Einsatzgruppen organisiert. Dass es bei der Durchführung beispielsweise lettische Kollaborateure gab, verschweigt die Ausstellung nicht und zeigt entsprechende SS-Mitgliedsmarken oder Tatwaffen.

Deutlich wurde schließlich in einer Diskussionsrunde im Anschluss an den Ausstellungsbesuch, dass es nicht nur verschiedene Perspektiven, sondern auch unterschiedliche Erzählungen über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs gibt, nicht nur in Europa, sondern auch innerhalb der einzelnen Länder wie Deutschland und Polen. Diese kontrovers zu berücksichtigen, sollte oberstes Gebot der Historikerinnen und Historiker sowie Museumsmacher sein. Unterschiedliche Erzählungen der Vergangenheit in ihrer Komplexität und auch Widersprüchlichkeit darzustellen, hat sich das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig zur Maxime gemacht. Auch die Gedenkstätten in Nordrhein-Westfalen orientieren sich in Anlehnung an den Beutelsbacher Konsens in ihrer pädagogischen Arbeit an ähnlichen Komplexitäts- und Kontroversitätsgeboten.

Das Europejskie Centrum Solidarności: Regionales Kultur- und Bildungszentrum

Das Europejskie Centrum Solidarności (ESC), im Deutschen auch als Europäisches Zentrum der Solidarität bezeichnet, wurde 2007 von der gleichnamigen Gewerkschaft, die seit den 1980er Jahren entscheidend an dem Systemwechsel in Osteuropa beteiligt war, der Stadt Danzig und dem polnischen Kulturministerium mit finanzieller Hilfe der EU gegründet. In einem architektonisch beeindruckenden Gebäude sind eine Ausstellung über die Geschichte des Ortes und die mit ihm verbundene Gewerkschaft, ihr Zentralarchiv, eine große Bibliothek sowie ein Bildungszentrum und Arbeitsplätze für Bürgerinitiativen untergebracht. So soll der Komplex insgesamt als Forum für politische Bildung und von zivilgesellschaftlichen Bewegungen genutzt werden. Erst im letzten Jahr wurde es mit dem Museumspreis des Europarates ausgezeichnet.

Nach einer Führung durch die Dauerausstellung hatte die Delegation im Anschluss Gelegenheit, mit Patrycja Medowska, der stellvertretenden Leiterin des ESC und der Direktorin der "Abteilung für Zivilkultur", zu sprechen. Ihr Arbeitsgebiet umfasst alle Aktivitäten der politischen Bildung, die vom ESC ausgehen oder vor Ort angeboten werden. Ziel der Bildungsarbeit ist der Kampf gegen Pauschalisierungen. So sollen nicht nur junge Menschen in der Region politisch gebildet werden, sondern beispielsweise auch städtische Mitarbeiter, Polizisten oder Lehrer für die Belange und Rechte von gesellschaftlichen Minderheiten sensibilisiert werden. In einer Zeit, in der nationalistische oder gar rassistische Bewegungen in vielen europäischen Ländern Auftrieb haben, erhält diese Bildungsarbeit besondere Bedeutung: Patrycja Medowska und ihre Kolleginnen und Kollegen möchten unter Eindruck gegenwärtiger Migrationen zeigen, wie alle Menschen sich „alltagssolidarisch“ verhalten können. Politische Bildung solle für die Bevölkerung attraktiv gestaltet werden. Kulturschaffende müssen Anreize schaffen, aktiv das gesellschaftliche Zusammenleben zu gestalten. Dafür gelte es die politischen Gegensätze „auszuhalten“ und Oppositionen nicht auszusperren, sondern sie ganz im Gegenteil an den „runden Tisch“ einzuladen.

Beide Besuche dienten mit ihrer Ausrichtung auch der Selbstverortung der NS-Gedenkstätten in NRW: Welchen Stellenwert haben Begriffe wie „Solidarität“ in der Erinnerungsarbeit in Deutschland? Kritisch müssen sich die Beschäftigten in den deutschen Einrichtungen fragen, ob auch sie spezifischen geschichtlichen „Meistererzählungen“ folgen, die es weiter zu hinterfragen gilt. Bemerkenswert war zudem der hohe Stellenwert, den die europäische Perspektive in den polnischen Einrichtungen einnimmt. Auch hier können sich die nordrhein-westfälischen Geschichtsorte vergleichend mit einiger Berechtigung einordnen, wie mehrsprachige Angebote, Austauschprogramme oder internationale Perspektiven beispielsweise zur Zwangsarbeit in Ausstellungen verdeutlichen. Gemeinsam ist allen Einrichtungen in beiden Ländern, dass sie versuchen, Zukunftsperspektiven aus der Vergangenheit abzuleiten.

Als nächstes Ziel stehen für die Gedenkstättenmitarbeiterinnen und -mitarbeiter aus NRW eine Reihe von Einrichtungen in Warschau auf dem Programm, darunter das Museum der Geschichte der jüdischen Polen und das Museum zur Geschichte des Warschauer Aufstandes. Darüber hinaus wird zu Fachgesprächen ins Deutsche Historische Institut und das Institut für das nationale Gedenken (IPN) geladen.

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