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Das Erinnern an die Verfolgung Homosexueller in den NS-Gedenkstätten Nordrhein-Westfalens

Im März 2017 wurden die in der Bundesrepublik Deutschland nach §175 StGB verurteilten Männer rehabilitiert, im Juni desselben Jahres wurde die Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare „geöffnet“. Trotz dieser vielbeachteten Beschlüsse gilt die Verfolgung Homosexueller zur Zeit des Nationalsozialismus vielen noch immer als „Randthema“. Wo kann man sich in den nordrhein-westfälischen Gedenkstätten und Erinnerungsorten über die Verfolgung und das Leben Homosexueller im Nationalsozialismus informieren?

Verfasst am 05. November 2017

In all den Jahrzehnten seit Eröffnung der ersten Mahn- und Gedenkstätten in der Bundesrepublik haben sich die Schwerpunkte der historischen Erinnerungsarbeit immer wieder an neue gesellschaftliche, politische und wissenschaftliche Auffassungen und Positionen angepasst. Wurde in den frühen Jahren eher allgemein den „Opfern der Gewaltherrschaft 1933–1945“ gedacht, so standen später aktive politische Widerstandskämpfer gegen das Regime des Nationalsozialismus im Fokus des Erinnerns. Vor allem nach Ausstrahlung der US-Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ 1979 wurde die Erinnerung an den nationalsozialistischen Völkermord an den europäischen Juden, der Shoah, teil der bundesdeutschen Erinnerungskultur. Weitere Gruppen fanden in den 1980er und 1990er Jahren Beachtung: Sinti und Roma, Zwangsarbeiter, Gruppen katholischer und protestantischer Christen. Die Erinnerungskultur wurde so zunehmend pluralistischer.

Das Schicksal der sogenannten „175“ hingegen, also das homosexueller Menschen, die nach dem Strafgesetzbuchsparagraphen 175 verfolgt wurden, wurde lange nur Wenigen bewusst, die an die Verfolgten des NS-Regimes dachten. Dies dürfte nicht zuletzt daran liegen, dass die rechtliche Gleichstellung Homosexueller erst sehr spät erfolgte – die Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus durch den Bundestag erfolgte erst 2002. Männer, die in der Bundesrepublik nach §175 StGB verurteilt wurden, wurden sogar erst in diesem Jahr – 2017 – vom Deutschen Bundestag rehabilitiert.

§175 StGB

§175 des deutschen Strafgesetzbuchs existierte seit 1872, er basierte auf einem preußischen Vorläufergesetz. Der Paragraph stellte sexuelle Handlungen unter Männern, so genannte „widernatürliche Unzucht“, unter Strafe. Dieser Straftatbestand war Ende der 1920er Jahren in die gesellschaftliche Debatte geraten, er blieb aber zunächst bis 1935 unverändert. Die Nationalsozialisten verschärften das Gesetz, es musste nun nicht mehr zu sexuellen Handlungen unter Männern kommen, damit das Gesetz angewandt werden konnte. Allein die Absicht reichte nun aus. Die Höchststrafe wurde von vier auf fünf Jahre erhöht, und für Fälle „schwerer Unzucht“ wurde der Paragraph 175a geschaffen, nach dem Angeklagte zu bis zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt werden konnten.

Polizei, Gestapo und die 1936 gegründete „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung“ legten „rosa Listen“ zur Erfassung Homosexueller an. Bis Kriegsende wuchsen diese Listen auf ca. 100.000 Namen an, nach §175 verurteilt wurden im nationalsozialistischen Deutschland etwa 50.000 Personen.  5.000–6.000 Männer wurden in Konzentrationslager wegen ihrer Homosexualität festgehalten – markiert mit dem „rosa Winkel“.

Nach der Befreiung Deutschlands wurden – in allen Besatzungszonen – viele Homosexuelle erneut verhaftet. Der Paragraph 175 blieb in der verschärften Fassung von 1935 erhalten. Bis zur einer ersten Reform des Sexualstrafrechts 1969 kam es daher erneut zu 100.000 Ermittlungsverfahren und 50.000 Verurteilungen wegen §175. Ab 1969 wurde in der Bundesrepublik der Paragraph schrittweise entschärft, er wurde erst 1994 ersatzlos gestrichen. In der DDR wurde die strafrechtliche Verfolgung 1989 beendet.

„175“er in Gedenkstätten und Erinnerungsorten

Die nordrhein-westfälischen Gedenkstätten und Erinnerungsorte an die Opfer des Nationalsozialismus bieten sehr unterschiedliche, individuelle Zugänge zur Erinnerung an die Verfolgung Homosexueller. In allen größeren Gedenkstätten ist die Geschichte der Homosexuellen Thema, teilweise hat dies bereits eine lange Tradition.

Einige kleinere Erinnerungsorte, die ein großes Expertenwissen für ihr spezifischen Fachgebiet vorweisen können, beschäftigen sich nur wenig mit der Geschichte der Verfolgung Homosexueller. In der überwiegenden Mehrheit der Gedenkorte kann man sich über die Geschichte der „175“er informieren.

In der Dokumentationsstätte Gelsenkirchen im Nationalsozialismus werden Homosexuelle bereits seit der Eröffnung der ersten Dauerausstellung 1994 berücksichtigt. In der überarbeiteten Ausstellung wird durch die Biographie eines Gelsenkircheners das Thema noch weiter konkretisiert. Auch in der Gedenkstätte für die Bonner Opfer des Nationalsozialismus wird über biographische Zugänge der Verfolgung Homosexueller gedacht. In der Erinnerungs- und Gedenkstätte Wewelsburg können Rundgänge durch die Dauerausstellung mit dem Schwerpunkt Verfolgung von Homosexuellen im NS besucht werden, zu Homosexuellen im KZ Niederhagen wird aktuell geforscht.

Das NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln stellt in der Dauerausstellung die Zerschlagung der vielfältigen homosexuellen Subkultur der 1920er Jahre dar. Die Schicksale verfolgter Homosexueller, von Bürgern wie von NS-Funktionären, werden auch hier anhand konkreter biographischer Beispiele erläutert. 1998 wurde im NS-Dokumentationszentrum die Sonderausstellung „‚Das sind Volksfeinde!‘ Die Kölner ‚Sonderaktion’ gegen Homosexuelle im Sommer 1938“ gezeigt. Der neunte Band der Schriftenreihe des Kölner NS-Dokumentationszentrums von Jürgen Müller beschäftigt sich mit der Verfolgung Homosexueller in Köln während der Zeit des Nationalsozialismus. (Zu allen genannten Literaturtitel siehe auch Literaturauswahl am Ende dieses Artikels.)

Die Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf beschäftigt sich bereits seit ihrer Gründung 1987 mit dem Thema. Bereits in der ersten Dauerausstellung von 1988, aber auch in der 2015 neu eröffneten Ausstellung, können sich Besucher zur Situation Homosexueller im NS erkundigen. Die Mahn- und Gedenkstätte hat zusätzliche Archivbestände, unter anderem lebensgeschichtliche Interviews. 1996 zeigte die Gedenkstätte eine Sonderausstellung zur Situation der „175er“, 1997 erschien eine Monografie von Frank Sparing. Seit 2015 ist die Düsseldorfer Gedenkstätte mit den örtlichen LSQT-Gruppen im Gespräch, um einen öffentlichen Gedenkort einzurichten und betreibt ein umfangreiches Forschungsprojekt zur rheinischen und westfälischen Kriminalpolizei, in dem die Verfolgung schwuler Männer ebenfalls dargestellt wird.

In der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache Dortmund gedachte man erstmals 1997 der Verfolgung Homosexueller. 2004 wurde, angeschoben durch den Arbeitskreis „Verlorene Geschichte(n)“ des Lesben- und Schwulenzentrums KCR die Dauerausstellung um einen Raum zur Erinnerung an die Verfolgung Homosexueller erweitert. In der Steinwache waren zwischen 1933 und 1945 mindestens 650 Personen wegen des Paragraphen 174 inhaftiert. Das Schicksal dieser Personen soll in der neuen Ausstellung der Steinwache, an der seit 2014 gearbeitet wird, verstärkt Eingang finden. Der Arbeitskreis Schwule Geschichte hat in den letzten Jahren zur Verfolgung homosexueller Menschen in Dortmund geforscht in Dortmund. (Vgl. Beitrag Stefan Mühlhofer in Ahland:  Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung, Berlin 2016.)

Die Homosexualität des jüdischen Besitzers der Villa Merländer in Krefeld, der heutigen NS-Dokumentationsstelle Villa Merländer, spielt hier nur eine untergeordnete Rolle. In Krefeld wurde in der Vergangenheit versucht, über die homosexuelle Kultur zu forschen, hier gestaltete sich (wie anderenorts auch) die Quellenlage als problematisch. In den meisten der genannten Gedenkstätten und Erinnerungsorte werden zusätzlich Veranstaltungen, Vorträge und Workshops angeboten. Diese Veranstaltungen stoßen auf sehr unterschiedlich starke Resonanz. Während an einigen Orten diese Angebote sehr gut angenommen werden, werden sie anderenorts nicht beachtet oder abgelehnt.  

Auch wenn grade erst zum Ende der letzten Bundestagswahlperiode mit der „Öffnung“ der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare der Gesetzgeber die gesellschaftliche Gleichstellung Homosexueller weiter vorangetrieben hat, so bleibt die Auseinandersetzung mit ihrer Verfolgungsgeschichte oftmals noch immer ein zu wenig beachtetes Thema. Die Arbeit der Gedenkstätten und Erinnerungsorte, die an vielen Stellen sicher noch erweitert werden kann, bleibt ein wichtiger Beitrag zur Anerkennung und Solidarität mit Schwulen und Lesben im Deutschland des Jahres 2017.

Literaturhinweise

Frank Ahland (Hrsg.): Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung. Schwul-lesbische Lebenswelten an Ruhr und Escher im 20. Jahrhundert, Berlin 2016.

Wolfgang D. Berude/Wolf Borchers/Rudolf Kahlfeld: „Das sind Volksfeinde!“ Die Verfolgung von Homosexuellen an Rhein und Ruhr 1933-1945. Hg. vom Centrum Schwule Geschichte, Köln 1998. 

Jürgen Müller: Ausgrenzung der Homosexuellen aus der Volksgemeinschaft. Die Verfolgung der Homosexuellen in Köln 1933-1945, Köln 2003.

Frank Sparing: „…wegen Vergehen nach § 175 verhaftet“. Die Verfolgung der Düsseldorfer Homosexuellen während des Nationalsozialismus. Hg. von der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf, Düsseldorf 1997. 

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